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Kann der Elternteil auf längere Zeit nicht entscheidend in die Ausübung des Sorgerechts eingreifen, sei es etwa infolge langfristiger Inhaftierung oder Abwesenheit ohne weitere Kontaktpflege, sei es durch einen Aufenthalt im Ausland ohne Einfluss auf die Ausübung des Sorgerechts, ist das Ruhen der elterlichen Sorge nach § 1674 BGB festzustellen.
Die sich aus der Inobhutnahme ergebenden Befugnisse des Jugendamts nach § 42 SGB VIII machen eine Beantragung von Hilfen durch einen Sorgeberechtigten – seien dies die Eltern, sei es ein Vormund – nicht entbehrlich (vgl. OLG Hamm v. 23.05.2023 - II-7 UF 67/23, BeckRS 2023, 20715).
Auf die Beschwerde des Jugendamtes der Stadt W. wird der Beschluss des Amtsgerichts – Familiengericht – Recklinghausen vom 21.07.2023, Az.: 42 F 101/23, abgeändert.
Es wird festgestellt, dass die elterliche Sorge für den Minderjährigen Z. I., geboren am 00.00.0000, ruht.
Es wird Vormundschaft angeordnet. Zum Vormund wird das Jugendamt der Stadt W. bestellt.
Für das Verfahren in beiden Instanzen werden Gerichtskosten nicht erhoben und außergerichtliche Kosten nicht erstattet.
Der Wert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.000,- € festgesetzt.
Gründe
2I.
3Der betroffene Jugendliche Z. I. wurde am 00.00.0000 in der Stadt N., Provinz A., in der Türkei geboren. Der Ort, in dem jetzt noch seine Eltern und Geschwister leben, liegt im Kurdengebiet. Z. reiste am 02.11.2022 in die BRD ein und konnte sich mit einem türkischen Pass ausweisen. Er leidet unter einer beidseitigen Hörschädigung, weshalb laut Jugendamt Grund zu der Annahme besteht, dass Z. nicht hinreichend alphabetisiert ist. Er wurde vorläufig vom Jugendamt H. in Obhut genommen, am 03.11.2022 dem Jugendamt W. zugewiesen und sodann am 28.11.2022 vom Jugendamt W. gem. § 42 SGB VIII in Obhut genommen. Derzeit ist er zusammen mit einem weiteren unbegleiteten minderjährigen Flüchtling in einer Wohnung in D untergebracht und wird durch pädagogische Fachkräfte im Alltag begleitet und unterstützt. Z. gab gegenüber dem Jugendamt an, er habe in seiner Heimat Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft erlebt. Einmal im Monat habe er Kontakt zu seinen Eltern, die weder Deutsch noch Englisch sprächen.
4In H. lebt ein Onkel von Z., Herr T. I.. Dieser gab gegenüber dem Jugendamt an, Z's Vater habe den Jungen aus Angst nach Deutschland geschickt, da man in seinem Heimatort kein Kurdisch sprechen dürfe und mit Gewalterfahrungen zu rechnen sei. Der Onkel erklärte im Übrigen, Z. zwar nicht bei sich zu Hause aufnehmen zu können, aber für ihn da sein und seine rechtliche Vertretung übernehmen zu wollen. Zudem könne Z. die Wochenenden bei ihm und der weiteren Verwandtschaft verbringen.
5Herr T. I. hat in dem Verfahren 70 F 2/23 die Vormundschaft für Z. beantragt, das Jugendamt hat seinen zuvor gestellten Antrag auf Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge gem. 1674 Abs. 1 BGB und Bestellung des Jugendamts zum Amtsvormund für Z. gem. § 1773 Abs. 1 BGB daraufhin zunächst zurückgenommen. Nachdem das Amtsgericht den Antrag des Herrn I. zurückgewiesen hatte, ist der zuvor zurückgenommene Antrag vom Jugendamt erneut in dem Hauptsacheverfahren 42 F 53/23 gestellt worden. Unter dem 27.06.2023 hat das Jugendamt sodann den Antrag auf Übertragung der Ausübung der elterlichen Sorge auf den Amtsvormund der Stadt W. – Jugendamt - im hiesigen einstweiligen Anordnungsverfahren gestellt.
6Erstinstanzlich hat das Jugendamt zur Begründung ausgeführt, dass eine einvernehmliche Regelung im Sinne des § 155 Abs. 2 FamFG mangels kurzfristiger Anhörungsmöglichkeit der Kindeseltern nicht binnen eines Monats herzustellen sei. Vielmehr müsse die Anhörung der Eltern durch einen ersuchten Richter erfolgen, was mehrere Monate in Anspruch nehmen würde. Ohne Bestellung eines Vormunds könne Z. nicht angemessen im Asyl- und Ausländerrecht vertreten werden. Die Verzögerungen im Hauptsacheverfahren seien unter Umständen nachteilig für den Jugendlichen. Auch sei Z. aufgrund seiner Einschränkungen mit Alltagssituationen überfordert und benötige engmaschige Unterstützung durch pädagogische Fachkräfte, um eine Struktur erarbeiten zu können, die langfristig zu einer stabilen Persönlichkeitsentwicklung und Verselbständigung führe.
7Zwar stünden dem Jugendamt aufgrund der Inobhutnahme die Befugnisse gem. § 42 SGB VIII zu. Diese würden eine Beantragung von Hilfen durch einen Sorgeberechtigten jedoch nicht entbehrlich machen. Denn die Befugnisse aufgrund der Inobhutnahme bestünden nur vorläufig und es sei im Falle unbegleiteter Minderjähriger unverzüglich die Bestellung eines Vormundes oder Ergänzungspflegers zu veranlassen gem. § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII. Auch sei das Jugendamt nur zu einer vorläufigen Unterbringung berechtigt.
8Im Hinblick auf etwaig zu beantragende Hilfen zur Erziehung sei das Jugendamt im Übrigen nicht handlungsfähig ohne Vormundschaft, hilfsweise Pflegschaft. Denn Anspruchsinhaber einer Hilfe zur Erziehung gem. §§ 27 ff SGB VIII seien nur die Personensorgeberechtigten, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben.
9Die Eltern Z's seien verhindert, die elterliche Sorge auszuüben. Der Junge habe nur einmal pro Monat Kontakt mit den Eltern. Es sei von diesen nicht versucht worden, sich um die Belange ihres Sohnes in Deutschland zu kümmern. Sprachliche und technische Barrieren würden im Übrigen einer effektiven Ausübung der elterlichen Sorge entgegenstehen.
10Das Amtsgericht hat den Antrag des Jugendamts mit Beschluss vom 21.07.2023 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein dringendes Bedürfnis zum gerichtlichen Tätigwerden im Sinne des § 49 Abs. 1 FamFG bestehe nicht, da das Jugendamt während der vorläufigen Inobhutnahme gem. § 42 Abs. 3 Satz 1 SGB VIII berechtigt sei, alle zum Wohl des Jugendlichen erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Das Jugendamt erhalte damit für die Dauer der Inobhutnahme eine das elterliche Sorgerecht überlagernde Rechtsposition, was auch für die Leistungsvoraussetzungen nach § 6 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gelte. Hilfen zur Erziehung gem. § 27 Abs. 1 SGB VIII – üblicherweise Unterbringung der Kinder/ Jugendlichen – seien bereits aus der Verpflichtung des Jugendamts, für das Wohl des Kindes zu sorgen, geschuldet.
11Die Inobhutnahme von Z. dauere bereits 8 Monate an, ohne dass seine Versorgung gelitten hätte. Zwar sei eine Inobhutnahme von dieser Dauer nicht mehr als vorläufig zu bezeichnen, eine längerfristige Inobhutnahme sei allerdings rechtlich möglich, denn wann diese zu enden habe, sei nicht normiert. Soweit das Jugendamt gem. § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen habe, könne damit nur eine Informationspflicht gegenüber dem Familiengericht gemeint sein. Nicht jedoch beinhalte die Norm eine Rechtsgrundlage für das Familiengericht, in grundrechtlich geschützte Positionen der Eltern einzugreifen.
12Maßnahmen nach § 1693 BGB seien ohne ein Abwarten der elterlichen Stellungnahme nicht zu treffen, da das Jugendamt sämtliche notwendigen Maßnahmen für das Kind treffen könne, wie etwa die Stellung eines Asylantrags. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbiete daher das Eingreifen des Familiengerichts. Soweit die Bestellung eines Vormundes für das Jugendamt Vorteile bringe, biete auch dies keine Rechtsgrundlage für einen sorgerechtlichen Eingriff.
13Gegen diese Entscheidung wendet sich das Jugendamt mit der Beschwerde und führt zu deren Begründung aus, die Kindeseltern seien an der Ausübung der elterlichen Sorge gehindert im Sinne des § 1693 BGB, da es an hinreichend zuverlässigen Kontaktmöglichkeiten mit Z. fehle. Es gebe auch ein dringendes Regelungsbedürfnis, da zwar derzeit versucht werde, im Rahmen des Hauptsacheverfahrens 42 F 53/23 die Kindeseltern anzuhören, jedoch unklar sei, in welchem zeitlichen Rahmen dies erfolgen könne. So gehe das Amtsgericht selbst nicht davon aus, dass die Anhörung bis zur Volljährigkeit des Jugendlichen stattfinden könne.
14Das Amtsgericht verkenne darüber hinaus den Regelungsgehalt des § 42 Abs. 3 SGB VIII, denn nach dessen Satz 4 sei unverzüglich die Bestellung eines Vormundes/ Pflegers zu veranlassen. Eine monatelange Inobhutnahme in eigener Zuständigkeit des Jugendamtes lasse sich damit nicht in Übereinstimmung bringen. Aufgrund der gesetzlichen Konzeption des SGB VIII sei das Jugendamt gehindert, über das Institut der Inobhutnahme dauerhafte Jugendhilfemaßnahmen zu installieren.
15II.
16Die Beschwerde des Jugendamtes ist zulässig (§ 162 Abs. 3 Satz 2 FamFG), insbesondere form- und fristgerecht eingelegt gem. den §§ 58 ff. FamFG. In der Sache ist die Beschwerde auch begründet.
171.
18Das Amtsgericht Recklinghausen ist zuständig. Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte für die Regelung der elterlichen Sorge ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIb-VO oder Art. 11 Brüssel IIb-VO. Diese ist vorliegend nach Art. 100 der Brüssel IIb-VO (VO (EU) 2019/1111 v. 25.06.2019, ABl. 2019 L 178) anwendbar, da das Verfahren nach dem 01.08.2022 eingeleitet worden ist.
19Nach Art. 7 Abs. 1 Brüssel IIa-VO sind für Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Ist noch kein gewöhnlicher Aufenthalt begründet, stellt Art. 11 Abs. 1 Brüssel IIb-VO auf den tatsächlichen Aufenthalt ab. Dies gilt nach Abs. 2 auch dann, wenn es sich bei dem Kind um einen Flüchtling handelt. Im vorliegenden Fall hat Z. jedenfalls seinen tatsächlichen Aufenthalt in Deutschland.
20In der Sache ist gem. Art. 15 Abs. 1 KSÜ deutsches Recht anwendbar. Nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ gilt das lex-fori-Prinzip. Ist die Zuständigkeit eines Vertragsstaates begründet, wendet dieser sein eigenes Recht an. Dabei ist unerheblich, ob das betreffende Kind Angehöriger eines Vertragsstaates oder eines Drittstaates ist (vgl. OLG Bamberg, Beschluss vom 10.03.2022, 7 UF 27/22, juris Rn. 17; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 26.08.2015, 18 UF 92/15, juris Rn. 23 ff.; MüKo-BGB/ Hennemann, § 1674 BGB, Rn. 20).
21Maßgeblich sind die einschlägigen Vorschriften in der seit dem 01.01.2023 geltenden Fassung. Art. 229 § 54 EGBGB enthält keine etwas Abweichendes bestimmenden Regelungen.
222.
23Hier ist im einstweiligen Anordnungsverfahren gem. § 49 Abs. 1 FamFG das Ruhen der elterlichen Sorge für Z. I. festzustellen und die Ausübung der elterlichen Sorge auf das Jugendamt der Stadt W. als Amtsvormund zu übertragen gem. den §§ 1674 Abs. 1, 1773 Abs. 1 BGB. Dabei ist es unerheblich, dass das Jugendamt in der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht erklärt hat, seinen Antrag nach § 1693 BGB stellen zu wollen, denn hieran ist das Gericht nicht gebunden. Vielmehr ist entscheidend, dass die begehrte Maßnahme – die Bestellung des Jugendamtes zum Amtsvormund für Z. I. – nach den maßgebenden Vorschriften gerechtfertigt ist und ein dringendes Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden besteht. Das ist hier der Fall.
24a)
25Eine Vormundschaft über einen Minderjährigen ist gem. § 1773 Abs. 1 BGB grundsätzlich dann anzuordnen, wenn er nicht unter elterlicher Sorge steht oder wenn die Eltern weder in den die Person noch in den das Vermögen betreffenden Angelegenheiten zur Vertretung des Minderjährigen berechtigt sind. Nicht sorgeberechtigt sind Eltern, denen die Sorge entzogen wurde oder deren Sorge ruht (vgl. Grüneberg/ Götz, BGB, 82. Aufl. 2023, § 1773 Rn. 3).
26aa)
27Da sich das Ruhen der elterlichen Sorge nach § 1674 BGB nicht kraft Gesetzes ergibt, ist eine entsprechende familiengerichtliche Feststellung erforderlich (vgl. Erman/ Döll, BGB, 17. Aufl. 2023, § 1674 Rn. 1; Staudinger/ Coester, BGB, Neubearb. 2020, § 1674 Rn. 3). Gem. § 1674 Abs. 1 BGB ruht die elterliche Sorge, wenn das Familiengericht feststellt, dass die Eltern auf längere Zeit die elterliche Sorge tatsächlich nicht ausüben können. Dabei ist eine bloße physische Abwesenheit nicht für ausreichend zu erachten, wenn die Eltern – sei es durch einen Elternteil, sei es durch sonstige Hilfskräfte bei der Ausübung der elterlichen Sorge – ihre Kinder gut versorgt wissen und auf der Grundlage moderner Kommunikationsmittel oder Reisemöglichkeiten auch aus der Ferne Einfluss auf die Ausübung der elterlichen Sorge nehmen können (vgl. BGH, Beschluss vom 06.10.2004, XII ZB 80/04, juris Rn. 9; Heilmann, Praxiskommentar Kindschaftsrecht, 2. Aufl. 2020, § 1674 Rn. 3; Erman/ Döll, aaO Rn. 2; Staudinger/ Coester, BGB, Neubearb. 2020, § 1674 Rn. 11). Bei langfristiger Abwesenheit von der Familie ist deswegen entscheidend darauf abzustellen, ob dem Elternteil die Möglichkeit verblieben ist, entweder im Wege der Aufsicht oder durch jederzeitige Übernahme der Personen- und Vermögenssorge zur eigenverantwortlichen Ausübung zurückzukehren. Ob dies der Fall ist, hängt entscheidend von den besonderen Umständen des Einzelfalles ab, insbesondere auch davon, welche andere Person der Elternteil mit der Ausübung seines Teils der elterlichen Sorge betraut hat. Nur dann, wenn der Elternteil auf längere Zeit nicht entscheidend in die Ausübung des Sorgerechts eingreifen kann, sei es etwa infolge langfristiger Inhaftierung oder Abwesenheit ohne weitere Kontaktpflege, sei es durch einen Aufenthalt im Ausland ohne Einfluss auf die Ausübung des Sorgerechts, ist das Ruhen der elterlichen Sorge nach § 1674 BGB festzustellen (vgl. BGH, aaO, juris Rn. 9 und 10).
28bb)
29Nach diesen Maßstäben ist hier das Ruhen der elterlichen Sorge festzustellen. Z. hat nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nur ca. alle zwei bis vier Wochen Kontakt zu seinen Eltern. Der Kontakt findet nur telefonisch statt und unterliegt technischen Schwierigkeiten, da in dem Heimatdorf Z's häufig für mehrere Stunden kein Strom verfügbar ist. Die Gespräche sind kurz, die Eltern, die nur kurdisch sprechen, fragen Z. hauptsächlich nach seinem Wohlergehen.
30Innerhalb eines Zeitraums von zwei bis vier Wochen können sich jedenfalls erhebliche und dringliche Umstände ergeben, die eine umgehende sorgerechtliche Entscheidung erfordern, wie etwa ein notwendiger medizinischer Eingriff. Aufgrund der insbesondere in den ländlichen Kurdengebieten schwachen Infrastruktur und der glaubhaft geschilderten technischen Probleme ist zweifelhaft, ob die Eltern in einem Notfall tatsächlich zuverlässig erreichbar sind. Überdies dürften den Eltern von Z., die weder Deutsch noch Englisch sprechen, ausreichende Kenntnisse über die in Deutschland für Z. bestehenden Verhältnisse und die hier zu treffenden Entscheidungen fehlen. Eine Verständigung Dritter mit ihnen dürfte auch bereits an der Sprachbarriere scheitern.
31cc)
32Die Feststellung des Ruhens der elterlichen Sorge hat zur Folge, dass die Eltern nicht berechtigt sind, die elterliche Sorge auszuüben. Daher ist in diesem Fall gem. § 1773 Abs. 1 Nr. 2 BGB für Z. ein Vormund zu bestellen. Dem stehen auch die Befugnisse des Jugendamts nach § 42 SGB VIII nicht entgegen.
33Insoweit folgt der Senat ausdrücklich der mit Beschluss vom 30.05.2023 in dem Verfahren 42 F 188/22 (II-7 UF 67/23) dargelegten Rechtsauffassung des 7. Familiensenats des Oberlandesgerichts Hamm. Denn die vom Amtsgericht vertretene Auffassung, die sich aus der Inobhutnahme ergebenden Befugnisse des Jugendamts nach § 42 SGB VIII würden eine Beantragung von Hilfen durch einen Sorgeberechtigten – seien dies die Eltern, sei es ein Vormund – entbehrlich machen, trifft offensichtlich nicht zu. Vielmehr ergibt sich gerade aus dem Wortlaut und der Systematik des Gesetzes, dass die Befugnisse aufgrund der Inobhutnahme nur vorläufige sind und im Falle eines unbegleiteten ausländischen Kindes oder Jugendlichen (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII) unverzüglich die Bestellung eines Vormundes oder Ergänzungspflegers zu veranlassen ist (§ 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII).
34Zwar ist es grundsätzlich richtig, dass sich aus § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII trotz des dort verwendeten Begriffs „unverzüglich veranlassen“ nur eine umgehende Mitteilungspflicht ergibt. Denn das „unverzügliche Veranlassen“ erfolgt durch eine Anregung gegenüber dem Amtsgericht Familiengericht nach § 24 FamFG (vgl. Dürbeck, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Familienrecht, FamRZ 2018, 553, 555; Erb-Klünemann/ Kößler, Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – eine verstärkte familiengerichtliche Herausforderung, FamRB 2016, 160, 161). Auch ein förmlicher Antrag des Jugendamts ist als Anregung in diesem Sinne zu sehen, ein entsprechendes Verfahren von Amts wegen einzuleiten (vgl. Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 26 Rn. 6). Das Familiengericht ist aber nicht an die Anregung gebunden, sondern ist bei seiner Entscheidung hinsichtlich der erforderlichen Maßnahmen frei (vgl. Sternal, FamFG, 21. Aufl. 2023, § 26 Rn. 6).
35Allerdings geht es hier nicht um die Frage, zu welcher Verfahrenshandlung das Familiengericht durch die Anregung nach § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII verpflichtet sein könnte, sondern darum, dass diese Norm eine unverzügliche Handlungspflicht des Jugendamts statuiert, die für die Vorläufigkeit der Befugnisse des Jugendamts spricht.
36§ 42 Abs. 1 Satz 2, 1. Hs. SGB VIII stellt weiterhin klar, dass das Jugendamt nur zu einer vorläufigen Unterbringung des Kindes bzw. Jugendlichen berechtigt ist. Ergänzend hinzuweisen ist zudem auf die Regelung des § 88a Abs. 4 SGB VIII, wonach sich während der (vorläufigen) Inobhutnahme die Zuständigkeit des Jugendamtes als Amtsvormund bzw. Ergänzungspfleger nach der Zuständigkeit für die Inobhutnahme richtet.
37b)
38Auch das dringende Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden liegt hier vor. Denn die Hauptsache ist, wie sich aus den obigen Ausführungen ergibt, entscheidungsreif. Statt in dem Hauptsacheverfahren 42 F 53/23 allerdings die entsprechende Entscheidung zu treffen, hat das Amtsgericht einen ersuchten Richter mit der Anhörung von Z’s Eltern beauftragt, was nach eigener Einschätzung des Amtsgerichts mehrere Monate in Anspruch nehmen und vor Eintritt der Volljährigkeit des Jugendlichen nicht abgeschlossen sein dürfte. Ein Zuwarten bis zur Entscheidung des Amtsgerichts entspricht hingegen nicht den oben dargelegten gesetzlichen Vorgaben. Der Senat erachtet es unter diesen Umständen daher als geboten, die seitens des Jugendamtes der Stadt W. begehrte Entscheidung im einstweiligen Anordnungsverfahren zu treffen, um dessen Handlungsfähigkeit in allen Belangen des Jugendlichen bereits jetzt sicherzustellen.
39III.
40Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 FamFG, die Wertfestsetzung folgt aus §§ 45 Abs. 1 Nr. 1, 41 FamGKG.
41Rechtsbehelfsbelehrung:
42Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
43Die Rechtsbeschwerde ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts nicht erfordert (§ 70 Abs. 2 FamFG).