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1. Allein der Umstand, dass sich eine Person in Deutschland (länger) aufgehalten und einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr in den Iran nach wie vor nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Verfolgung aus.
2. Nach einem längeren Auslandsaufenthalt bei der Rückkehr in den Iran durchgeführte Befragungen stellen für sich genommen ohne das Hinzutreten besonderer Umstände keine relevanten, einen Schutzstatus begründende Handlungen im Sinne von § 3a AsylG dar. Entsprechendes gilt für eine etwaige Bestrafung wegen illegaler Ausreise.
3. a. Der Senat hält in Auswertung des aktuellen Erkenntnismaterials an seiner Einschätzung fest, wonach eine exilpolitische Betätigung eines iranischen Staatsangehörigen (erst) dann schutzrechtlich relevant ist, wenn sie in einem nach außen hin in exponierter Weise erfolgtem Auftreten besteht.
b. Welche Anforderungen in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen herausheben und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lassen.
c. Je größer öffentliche Sichtbarkeit, Reichweite und (potentieller) Einfluss des Betreffenden sind, umso eher wird dieser bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen müssen.
d. Neben der Möglichkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung kann auch die Bedeutung bzw. Funktion einer Person innerhalb der iranischen Diaspora bzw. für eine Aktion oder Demonstration maßgeblich dafür sein, ob jemand als "Schlüsselperson" in den Fokus der iranischen Behörden gerät.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 11.5.2020 wird geändert.
Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.6.2017 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Instanzen trägt die Beklagte.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
2Der am 00.0.0000 in Ramian geborene Kläger ist iranischer Staatsangehöriger persischer Volkszugehörigkeit. Nach seinen eigenen Angaben verließ er den Iran im Oktober 2015 und reiste über die Türkei, Griechenland und die Länder der sogenannten Balkanroute am 10.11.2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Nach der bereits am 20.11.2015 erfolgten Meldung als Asylsuchender stellte er am 24.5.2016 einen förmlichen Asylantrag.
3Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 14.12.2016 gab der Kläger an, sich im Iran politisch gegen das Regime und den Islam engagiert zu haben. Er habe an Demonstrationen teilgenommen und sei einmal sogar von der Geheimpolizei verhaftet worden. Dazu sei es im Jahr 2014 in Teheran gekommen, als er und seine Kollegen seit neun Monaten kein Gehalt von ihrer Firma bekommen hätten. Er habe dann mit ein paar Kollegen und etwa 2.000 weiteren Leuten wie z. B. Lehrern und Krankenschwestern vor dem Parlament demonstriert. Sie hätten laut gerufen und Plakate in der Hand gehabt. Dabei seien sie von unbekannten Personen fotografiert worden. Nach circa 40 Minuten sei er von einem jungen Mann angesprochen worden, diesem zu folgen. Er sei dann zur Polizeistation gezerrt worden. Dort sei er durchsucht und sein Handy und die Personalpapiere seien ihm abgenommen worden. Dann sei er woanders hingebracht worden, wo er 48 Stunden in Haft habe verbringen müssen. Anschließend sei er zum Gefängnis Rajaii-Shar in der Stadt Karaj gebracht und dort 15 Tage festgehalten worden. Schließlich habe seine Familie für ihn eine Kaution in Höhe von 70 Millionen Toman entrichtet und ihn abgeholt. Bei der Demonstration seien sehr viele Personen verhaftet worden, u. a. auch 13 seiner insgesamt 15 Kollegen, die teilgenommen hätten. Einige seien ebenfalls gegen Zahlung einer Kaution freigelassen worden, andere seien in Haft geblieben. Auf Nachfrage berichtete der Kläger, zweimal in der Öffentlichkeit und fünfzehnmal intern bei der Firma an Demonstrationen teilgenommen zu haben. Er habe sich aber auch alleine engagiert und sei dazu über Line-Telegram und WhatsApp aktiv gewesen. Dort habe er seine Kollegen motiviert, auf ihren Rechten zu bestehen, und habe die Demonstrationen organisiert. Nach seiner Freilassung sei er nur noch gegen den Islam aktiv gewesen. Wie schon seit 2010 habe er auf YouTube irgendwelche Links mit antireligiösem Inhalt auf USB-Sticks heruntergeladen und sie anschließend mit Freunden gemeinsam angeschaut. Am Anfang seien sie vier und am Ende zehn gewesen. Sein Bruder habe ihm berichtet, dass zwei aus der Gruppe festgenommen worden seien. Diese hätten ihn wahrscheinlich verraten. Auf weitere Nachfrage gab der Kläger an, im Iran verfolgt worden zu sein. Sein Bruder habe ihm gesagt, dass er - der Kläger - vom Geheimdienst gesucht werde. Der Geheimdienst sei bei ihm zu Hause gewesen. Zu dieser Zeit sei er in Badar Abbas im Süden auf der Arbeit gewesen. Dorthin sei er umgezogen und dort habe ihn keiner gekannt. Er sei dort nicht mehr verfolgt worden, habe aber die ganze Zeit in Angst gelebt. Angefangen hätten seine Probleme bereits im Jahr 2007, als er das erste Mal wegen Alkohol verhaftet worden sei.
4Der Kläger legte Bescheinigungen der Arbeiterkommunistischen Partei Iran (Worker-communist Party of Iran) vom 12.12.2016 und des Zentralrats der Ex-Muslime vom 28.3.2016 vor, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Zur Arbeiterkommunistischen Partei teilte er auf Nachfrage mit, dort 15 Tage nach seiner Einreise in Deutschland Mitglied geworden zu sein. Im Iran sei er kein richtiges Mitglied gewesen. Die Partei sei in Deutschland legal. Im Iran sei sie geheim, verboten und habe etwa 100.000 Mitglieder. Ihr Anführer heiße G. und lebe in Kanada. Die Partei stehe für eine bessere Welt für alle und sei aktiv gegen Steinigung und Hinrichtung. Ihrer Meinung nach solle der Säkularismus im Iran herrschen, man sei auch für Arbeiterrechte.
5Im Nachgang zur Anhörung übersandte der Kläger zum Nachweis seiner hervorgehobenen politischen Tätigkeit zahlreiche Fotografien.
6Mit am 20.6.2017 als Einschreiben zur Post gegebenem Bescheid vom 19.6.2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG), auf Asylanerkennung (Art. 16a GG) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 AsylG) ab. Ferner stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Weiter forderte es den Kläger zur Ausreise auf und drohte ihm bei Nichtbefolgung der Ausreiseaufforderung die Abschiebung mit dem vorrangigen Zielstaat Iran an. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
7Zur Begründung seiner Entscheidung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lägen nicht vor. Der Kläger habe sein Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft dargestellt. Seine Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen seien arm an Details, vage und oberflächlich gewesen. Aufgrund seiner Angaben sei nicht deutlich geworden, welcher konkreten Bedrohungssituation er ausgesetzt gewesen sei. Die behauptete Festnahme durch die Polizei sei bereits im Jahr 2014 erfolgt. Er habe danach bis zu seiner Ausreise im Oktober 2015 und damit mehrere Monate in seinem Heimatland leben können, ohne weiteren Gefahren ausgesetzt gewesen zu sein. Selbst der Verfolgung durch den Geheimdienst habe er sich durch einen Umzug in eine andere Stadt entziehen können. Die Sympathie bzw. geringfügige Aktivität für die Arbeiterkommunistische Partei reiche für eine positive Entscheidung nicht aus, da die daraus folgenden oder drohenden Eingriffe nach Dauer und Intensität so gering seien, dass sie die Schwelle der Verfolgungsrelevanz nicht erreichten. Schließlich sei allein aufgrund der Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland bei einer Rückkehr in den Iran nicht mit flüchtlingsschutzrelevanter Verfolgung zu rechnen. Auf Grundlage seines Vorbringens erfülle der Kläger auch weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes noch für die Feststellung von Abschiebungsverboten.
8Der Kläger hat am 6.7.2017 beim Verwaltungsgericht Köln Klage erhoben. Zur Begründung hat er auf seine Ausführungen im Rahmen der Anhörung Bezug genommen. Ergänzend hat er vorgetragen, dass bei der Frage einer beachtlichen Verfolgungsgefahr im Falle der Rückkehr auf die Herkunftsregion bzw. den Herkunftsort - in seinem Fall Daland - abzustellen sei. Daland sei ein kleiner Ort mit rund 8.000 Einwohnern und seine jahrelange Abwesenheit müsse sich ohne weiteres herumgesprochen haben. Zudem habe ein Mullah ihn in einer Moschee vor etwa 300 Zuhörern öffentlich als Ungläubigen dargestellt und ein "Namensvetter" - der dem Regime angehörige P. - habe ihn im Internet bedroht. Darüber hinaus sei er - der Kläger - mit seinen regimekritischen Ansichten für jedermann im Internet identifizierbar. So habe er sich in der auch im Internet abrufbaren Zeitschrift "C." zur Apostasie geäußert, habe auf YouTube einschlägige Videos hochgeladen, sei dort mit Foto zu sehen und sei schließlich auf Twitter und Facebook aktiv. Darüber hinaus habe er auch ein regimekritisches Musikvideo auf Telegram veröffentlicht, das bereits über 300.000 mal angeklickt worden sei. Hierüber sei auch durch "Y." berichtet worden. Im Falle einer Rückkehr in den Iran würde er am Teheraner Flughafen befragt und seine regimefeindlichen Ansichten und die Apostasie würden sofort entdeckt werden. Zudem werde sein Einfluss auf die Meinungsbildung im Iran zu Tage treten.
9Der Kläger hat (sinngemäß) beantragt,
10die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.6.2017 zu verpflichten,
11ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen,
12hilfsweise, ihm subsidiären Schutz nach § 4 AsylG zuzuerkennen,
13weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
14Die Beklagte hat (schriftsätzlich) beantragt,
15die Klage abzuweisen.
16In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht hat der Kläger auf Befragung durch das Gericht angegeben, mit Hilfe eines Schleusers aus der Türkei ausgereist zu sein. In der Stadt Badar Abbas habe er sich ungefähr drei Monate aufgehalten. Weiter hat er vorgetragen, mittlerweile Mitglied der Partei "Irananarchism" (iranarchism.com) zu sein, die 90.520 Mitglieder habe. Bei der in der Anhörung erwähnten Demonstration vor dem Parlament in Teheran habe er für die Freilassung politischer Gefangener, namentlich Soheil Arabi und Tabar Zadi demonstriert. Fünf Demonstranten, die mit ihm teilgenommen hätten, seien verhaftet und mittlerweile gehängt worden. Darüber hinaus sei der Beitrag auf "Y.", in dem auch über sein Musikvideo berichtet worden sei, vom Journalisten A. über dessen Telegram-Kanal "Cedaje Mardum" verbreitet worden. A. sei eine Woche nach der Veröffentlichung vom iranischen Geheimdienst festgenommen worden. Es sei daher davon auszugehen, dass der iranische Geheimdienst "Y." und dessen Inhalte einschließlich seines regimekritischen Musikvideos beobachtet habe. Darüber hinaus habe der Kanal von A. 1,4 Millionen Nutzer gehabt, so dass die 300.000 Klicks auf sein ‑ des Klägers ‑ Video keine unbedeutende Zahl seien. Zugleich hat der Kläger weitere Fotos eingereicht, um sein exilpolitisches Engagement darzulegen.
17Das Verwaltungsgericht hat durch Urteil vom 11.5.2020, dem Kläger zugestellt am 13.5.2020, die Klage abgewiesen und zur Begründung unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundesamtes ausgeführt, es sei nicht davon überzeugt, dass der Kläger den Iran wegen der geltend gemachten drohenden Verfolgung verlassen habe. Sein Vorbringen stelle sich als unglaubhaft dar. Aus den geltend gemachten exilpolitischen Tätigkeiten ergebe sich nichts anderes. Sie vermittelten dem Kläger nicht die nötige exponierte Stellung, um von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr auszugehen. Vielmehr hätten sie sich im Rahmen dessen gehalten, was die Masse der mit dem Regime in Teheran Unzufriedenen unternehme und dem Gericht aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt sei.
18Auf den Antrag des Klägers vom 12.6.2020 hat der Senat durch Beschluss vom 30.8.2022, dem Kläger zugestellt am selben Tag, die Berufung wegen Verletzung des Gebots des rechtlichen Gehörs zugelassen. Zur Berufungsbegründung führt der Kläger mit Schriftsatz vom 30.9.2022, eingegangen am selben Tag, aus, dass ihm schon aufgrund seiner exilpolitischen Tätigkeit im Iran Verhaftung und Folter in Anknüpfung an seine oppositionelle Gesinnung drohe. Unter Bezugnahme auf seinen Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren im Übrigen weist er insbesondere darauf hin, dass er aus der breiten Masse der mit dem Regime Unzufriedenen durch sein regimekritisches Musikvideo herausgetreten sei, das eine große Öffentlichkeit erreicht habe. Es bestehe außerdem ein reelles Risiko, dass er infolge der Übernahme des Netzwerks des A. durch den Geheimdienst Irans identifiziert worden sei.
19Der Kläger beantragt sinngemäß,
20das auf die mündliche Verhandlung vom 11.5.2020 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Köln abzuändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19.6.2017 zu verpflichten,
21ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
22hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen,
23weiter hilfsweise, festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegt.
24Die Beklagte beantragt,
25die Berufung zurückzuweisen.
26Zur Begründung nimmt sie auf den streitgegenständlichen Bescheid und das klageabweisende Urteil des Verwaltungsgerichts Bezug.
27Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
28Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Ausländerakten und die in elektronischer Form vorgelegten Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
29Entscheidungsgründe:
30A. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung (§§ 101 Abs. 2, 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
31B. Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.
32Die zulässige Klage ist bereits mit ihrem Hauptantrag begründet, so dass über die Hilfsanträge nicht zu entscheiden ist. Der Bescheid des Bundesamtes vom 19.6.2017 ist - soweit im gerichtlichen Verfahren streitgegenständlich - rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
33Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (I.). Infolgedessen sind die Ziffern 1 sowie 3 bis 6 des Bescheides vom 19.6.2017 rechtswidrig und aufzuheben (II.).
34I. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den §§ 3 ff. AsylG liegen vor. Nach den maßgeblichen rechtlichen Maßstäben (1.) droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung (2.). Anderweitiger Schutz hiergegen durch Akteure gemäß § 3d AsylG oder durch die Inanspruchnahme internen Schutzes gemäß § 3e AsylG steht dem Kläger im Iran nicht zur Verfügung (3.).
351. Gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 1 und 2 lit. a AsylG ist ein Ausländer
36- im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -
37Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -, BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (sog. Verfolgungsgründe, vgl. zu deren Definition § 3b Abs. 1 AsylG) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
38Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten zunächst Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4.11.1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), ferner Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG).
39Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind gemäß § 3c AsylG der Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatliche Akteure, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne von § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
40Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den Verfolgungsgründen im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 AsylG und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen, wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinen Verfolgern zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).
41Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3e AsylG allerdings nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftsstaates keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
42Die Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist begründet, wenn dem Ausländer bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt.
43Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 11.12.2019 - 1 B 79.19 -, juris Rn. 15 mit Verweis auf Urteil vom 20.2.2013 ‑ 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67 = juris Rn. 19.
44Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Maßgebend ist letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit; ein drohender ernsthafter Schaden ist danach beachtlich wahrscheinlich, wenn einem besonnenen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint.
45Ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, Beschluss vom 11.12.2019 - 1 B 79.19 -, juris Rn. 15 mit Verweis auf Urteil vom 20.2.2013 ‑ 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67 = juris Rn. 32 m. w. N.
46Wurde der Ausländer bereits vor der Ausreise in seinem Herkunftsland verfolgt bzw. war er von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht, ist dies nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; d. h. es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere (unmittelbar drohende) Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften.
47Vgl. BVerwG, Urteile vom 4.7.2019 - 1 C 33.18 -, NVwZ 2020, 161 = juris Rn. 16, vom 19.4.2018 ‑ 1 C 29.17 -, BVerwGE 162, 44 = juris Rn. 15 sowie vom 27.4.2010 - 10 C 5.09 -, BVerwGE 136, 377 = juris Rn. 23.
48Die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Nach Entstehungsgeschichte und (Binnen-)Systematik des § 28 AsylG, der Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU (früher: Richtlinie 2004/83/EG) umsetzt,
49vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 216 f.,
50wobei er allerdings von der Regelungstechnik der Richtlinie abweicht,
51vgl. dazu Hailbronner, Ausländerrecht, 134. Aktualisierung (Januar 2024), § 28 AsylG Rn. 28,
52sind selbst geschaffene Nachfluchttatbestände, die bis zur Unanfechtbarkeit des Erstverfahrens verwirklicht worden sind, trotz der irreführenden Formulierung uneingeschränkt zu berücksichtigen.
53Vgl. BVerwG, Urteil vom 24.9.2009 - 10 C 25.08 ‑, BVerwGE 135, 49 = juris Rn. 20 (zu § 28 Abs. 1a AsylVfG und Art. 5 der Richtlinie 2004/83/EG); Nds. OVG, Urteil vom 14.3.2022 - 4 LB 20/19 -, AuAS 2022, 132 (Ls.) = juris Rn. 52 f.; OVG M.-V., Urteil vom 21.3.2018 - 2 L 238/13 -, juris Rn. 33 f.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 5.12.2017 - A 11 S 1144/17 -, InfAuslR 2018, 158 (Ls.) = juris Rn. 41; Hailbronner, Ausländerrecht, 134. Aktualisierung (Januar 2024), § 28 AsylG Rn. 28 ff. m. w. N.
542. Nach diesen Maßstäben droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG. Zwar begründet allein der mehrjährige Aufenthalt des Klägers im Ausland und seine Asylantragstellung in Deutschland keine solche Verfolgungsgefahr (a.). Entsprechendes gilt mit Blick auf die (wohl) illegale Ausreise des Klägers aus dem Iran und eine zu erwartende Befragung bei einer Rückkehr dorthin (b.). Eine begründete Furcht vor Verfolgung ergibt sich aber - selbst wenn man davon ausgeht, dass der Kläger unverfolgt aus dem Iran ausgereist ist - jedenfalls aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem der Kläger den Iran verlassen hat, nämlich seine exilpolitische Tätigkeit (c.).
55a. Es ist nicht anzunehmen, dass dem Kläger bereits wegen seines mehrjährigen Auslandsaufenthalts oder seiner Asylantragstellung in Deutschland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Rückkehrfall Verfolgung droht. Allein der Umstand, dass sich eine Person in Deutschland (länger) aufgehalten und ggf. einen Asylantrag gestellt hat, löst bei Rückkehr in den Iran nach wie vor nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit staatliche Repressionen aus.
56Vgl. Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 25; AA, Auskunft an das OVG Schl.-H. vom 14.6.2023, S. 3 Fragen 6 und 7 sowie 9 bis 11; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BfA), Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 167 f.; Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT), Country Information Report Iran vom 24.7.2023, S. 39 f.; ebenso aus der Rspr.: Nds. OVG, Urteil vom 26.1.2024 - 8 LB 88/22 -, juris Rn. 79; OVG Schl.-H., Urteil vom 12.12.2023 - 2 LB 9/22 -, juris Rn. 60 ff.
57So stellt das DFAT fest, die Behörden schenkten abgelehnten Asylsuchenden im Falle ihrer Rückkehr in den Iran wenig Aufmerksamkeit; ihre Handlungen würden nicht routinemäßig untersucht.
58Vgl. DFAT, Country Information Report Iran vom 24.7.2023, S. 39 f.
59Das Nachsuchen um Asyl im Ausland ist an sich nicht strafbar und auch kein Grund, die iranische Staatsbürgerschaft zu verlieren.
60Vgl. BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 167 f.
61Diese Einschätzung wird auch durch die Angaben dreier in einem Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wiedergegebenen Quellen aus dem Iran nicht durchgreifend in Frage gestellt.
62Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Iran: Konsequenzen regierungskritischer Aktivitäten im Ausland bei der Rückkehr, 26.11.2023, S. 8.
63So gibt es laut der ersten Quelle - "Kontaktperson J" - zwar Berichte über abgelehnte Asylsuchende, die bei ihrer Rückkehr zu den von ihnen geltend gemachten Asylgründen befragt worden sind und von denen einige erst nach Tagen oder Wochen freigelassen worden und im Visier der Behörden gelandet sind. Dass im Anschluss an die Befragung nur einige der Befragten festgehalten wurden und in das Visier der Behörden geraten sind, zeigt bereits, dass dafür nicht das im Ausland gestellte Asylgesuch, sondern das Ergebnis der Befragung maßgeblich gewesen sein muss. Auch nach den Angaben einer weiteren der zitierten Quellen ist der Asylantrag nur der Anlass für die Befragung der zurückkehrenden Person. Denn das Ziel der Befragung sei es, in Erfahrung zu bringen, ob der Rückkehrer "sich politisch oder religiös betätigt hat", also die typischen Anknüpfungspunkte für eine Verfolgung durch das iranische Regime bestehen. Nichts anderes folgt schließlich aus den Angaben der letzten der zitierten Quellen. Diese berichtet davon, dass für Rückkehrende, wenn sie im Ausland ein Asylgesuch gestellt haben und die iranischen Behörden davon Kenntnis haben, ein erheblich erhöhtes Risiko besteht, in Schwierigkeiten zu geraten. Hier bleibt schon unklar, was die Quelle unter Schwierigkeiten versteht. Losgelöst von diesen inhaltlichen Erwägungen ist die Anzahl der zitierten Quellen - jedenfalls ohne nähere Informationen dazu, um wen es sich handelt und woher er seine Informationen bezieht - aber ohnehin zu gering, um aus ihren Angaben allgemeine Rückschlüsse zur Behandlung von Rückkehrern, die im Ausland einen Asylantrag gestellt haben, bei der Einreise in den Iran ziehen zu können. Dementsprechend nimmt die Schweizerische Flüchtlingshilfe die Quellen auch lediglich zum Beleg dafür, dass ein abgelehntes Asylgesuch vermutlich zu Befragungen führen kann (dazu b.).
64Keine andere Bewertung rechtfertigt ferner die Stellungnahme von Amnesty International (AI), wonach iranische Staatsangehörige, die außerhalb des Iran Zuflucht gesucht haben und zwangsweise zurückgeführt werden, von den iranischen Behörden "potentiell" als regierungskritisch betrachtet werden.
65Vgl. AI, Stellungnahme für das OVG Schl.-H. vom 20.4.2023, S. 5.
66Vielmehr passt diese Einschätzung ohne weiteres zu den bereits wiedergegebenen Angaben der Quellen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, dass Asylverfahren im Ausland zwar Anlass für Befragungen sein können, eine etwaige Verfolgung jedoch nicht an die Asylantragstellung, sondern an das Ergebnis der Befragung anknüpft.
67Auch sonst sind weitergehende Erkenntnisse dafür, dass die iranischen Behörden aus der Asylantragstellung im (westlichen) Ausland eine regimefeindliche Gesinnung herleiten, nicht ersichtlich. Allein aus dem Fehlen von Referenzfällen lassen sich im Übrigen keine für eine Verfolgung von Rückkehrern beachtlichen Rückschlüsse ableiten.
68b. Nur im Einzelfall und nach Feststellungen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nach einem längeren Auslandsaufenthalt bei der Rückkehr in den Iran durchgeführte Befragungen
69- vgl. SFH, Iran: Konsequenzen regierungskritischer Aktivitäten im Ausland bei der Rückkehr, 26.11.2023, S. 6 -
70stellen für sich genommen ohne das Hinzutreten besonderer Umstände ebenfalls keine relevanten, einen Schutzstatus begründende Handlungen im Sinne von § 3a AsylG dar.
71Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 19.5.2021 - 6 A 3129/19.A -, juris Rn. 15 -.
72Es gibt keine Erkenntnisse, dass diese Befragungen regelmäßig von Handlungen von Verfolgungsintensität begleitet werden.
73Vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 25.
74Insbesondere sind bisher keine Fälle bekannt, in denen Zurückgeführte im Rahmen der Befragung bei Rückkehr psychisch oder physisch gefoltert worden sind.
75Vgl. BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 168; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 25.
76Insoweit haben sich Einreiseverfahren für Iraner laut einer Auskunft des Danish Immigration Service auch nach dem Ausbruch der inzwischen weitgehend abgeflauten Proteste im September 2022 nicht geändert. Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe hat keine Kenntnis von einer Verschärfung der Einreisekontrollen.
77Vgl. The Danish Immigration Service (DIS), Iran: Protests 2022-2023, 31.3.2023, S. 26; SFH, Iran: Konsequenzen regierungskritischer Aktivitäten im Ausland bei der Rückkehr, 26.11.2023, S. 5.
78Nichts anderes folgt daraus, dass der Kläger (wohl) illegal ausgereist ist, d. h. den Iran verlassen hat, ohne eine Grenzübergangsstelle zu passieren. Zwar ist in diesen Fällen bei einer Rückkehr mit einer Befragung und einer auf Grundlage von Art. 34 und 35 des iranischen Passgesetzes erfolgenden Bestrafung der illegal ausgereisten Person zu rechnen, die durch eine Geld- oder Haftstrafe erfolgen kann. Wird die ausgereiste Person nicht weiter von den Behörden gesucht, wird die bloße Tatsache der illegalen Ausreise nach Auskunft des niederländischen Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten, dass sich insoweit u. a. auf Angaben einer Quelle aus April 2023 beruft, allerdings in der Regel lediglich mit einer Geldstrafe geahndet.
79Vgl. Königreich der Niederlande, Ministerie van Buitenlandse Zaken, Algemeen ambtsbericht Iran, September 2023, S. 94 (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com); ferner BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 169; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Iran: Illegal exit (5/2022), S. 18 m. w. N.
80In Befragung und etwaiger Bestrafung als solcher liegt jedoch schon deshalb keine (drohende) Verfolgung i. S. v. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, weil sie nicht wegen eines Verfolgungsgrundes (vgl. § 3b AsylG) erfolgt. Es liegen keine hinreichenden Erkenntnisse dazu vor, dass die iranischen Behörden eine illegale Ausreise für sich genommen als einen regimekritischen Akt betrachten und entsprechend ‑ etwa durch eine unverhältnismäßige Bestrafung nach Art. 34, 35 des Passgesetzes (vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG) im Sinne eines sogenannten Politmalus - sanktionieren.
81Vgl. AA, Auskunft an das OVG Schl.-H. vom 14.6.2023, S. 5 Frage 14.
82Eine rechtmäßige Ausreise aus der Islamischen Republik Iran ist überdies grundsätzlich und nicht nur ausnahmsweise unter politischen Gesichtspunkten mit einem gültigen Reisepass und einem Nachweis über die Bezahlung der Ausreisegebühr möglich.
83Vgl. AA, Bericht über die asyl- und ab-schiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 28.
84Mithin kommt auch ein Verständnis von Art. 34 und 35 des iranischen Passgesetzes als "Republikfluchttatbestand" nicht in Betracht, mit dem nicht nur eine Verletzung von Vorschriften zur Durchsetzung ordnungsrechtlicher Aus- und Einreisebestimmungen geahndet, sondern der Betroffenen darüber hinaus auch in einer von der herrschenden Staatsdoktrin abweichenden politischen Überzeugung getroffen werden soll, die sein Heimatstaat allein schon wegen der unerlaubten Ausreise bzw. des unerlaubten Aufenthalts im Ausland annimmt.
85Vgl. zur Asylrelevanz der Bestrafung der unerlaubten Ausreise und des unerlaubten Verbleibens im Ausland BVerwG, Urteil vom 15.3.1994 ‑ 9 C 510.93 -, NVwZ 1994, 1119 = juris Rn. 14 m. w. N.; Hamb. OVG, Beschluss vom 2.9.2021 ‑ 4 Bf 546/19.A -, AuAS 2021, 239 (Ls.) = juris Rn. 70 f. m. w. N.
86c. Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran jedoch Verfolgung wegen seiner durch exilpolitisches Engagement erkennbar gewordenen politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG).
87aa. Der Senat hält in Auswertung des aktuellen Erkenntnismaterials an seiner Einschätzung fest, wonach eine exilpolitische Betätigung eines iranischen Staatsangehörigen (erst) dann schutzrechtlich relevant ist, wenn sie in einem nach außen hin in exponierter Weise erfolgtem Auftreten besteht. Welche Anforderungen dabei in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist, lässt sich nicht allgemein beantworten. Maßgeblich ist, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen herausheben und als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner erscheinen lassen.
88Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 16.6.2021 - 6 A 1407/19.A -, juris Rn. 32 f., und vom 22.8.2019 ‑ 6 A 300/19.A -, juris Rn. 14 f. m. w. N.
89Je größer öffentliche Sichtbarkeit, Reichweite und (potentieller) Einfluss des Betreffenden sind, umso eher wird dieser bei Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgung rechnen müssen.
90Dies ist für jeden Einzelfall ‑ unter Berücksichtigung der konkreten exilpolitischen Tätigkeit ‑ gesondert vor dem Hintergrund der aktuellen (verschärften) allgemeinen Lage im Iran [(1.)] anhand der besonderen Umstände zu untersuchen, die nach der Erkenntnislage dafür maßgeblich sind, ob exilpolitisches Engagement durch das iranische Regime wahrgenommen und sanktioniert wird [(2.)].
91(1.) Die Regierung der Islamischen Republik Iran, die innen-, außen- und wirtschaftspolitisch massiv unter Druck geraten ist, ist auf Systemerhalt mit allen Mitteln ausgerichtet; sie bekämpft jegliche Formen von Dissens und Opposition auf allen zur Verfügung stehenden Wegen. In den letzten Jahren kam es im Iran fast täglich zu kleineren Protesten sowie zu mehreren Wellen groß angelegter Protestaktionen, die zumeist ein gegen die Regierung und das Regime gerichtetes Thema hatten. Bis September 2022 wurden sie größtenteils durch die schwierige Wirtschaftslage und latente (politische) Spannungen ausgelöst. Geringverdiener und Menschen aus der Arbeiterklasse demonstrierten zum Beispiel im Zusammenhang mit Preiserhöhungen oder an (religiösen) Lokalfeiertagen und Gedenktagen. Anlässlich solcher Proteste und Demonstrationen kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, die mit - auch tödlicher - Gewalt vorgingen.
92Vgl. BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 10; DFAT, Country Information Report Iran vom 24.7.2023, S.24 f.; Königreich der Niederlande, Ministerie van Buitenlandse Zaken, Algemeen ambtsbericht Iran, September 2023, S. 12 (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com).
93Der Tod der 22-Jährigen Jîna Mahsa Amini am 16.9.2022 im Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei in Teheran aufgrund eines angeblich unkorrekt getragenen Hijabs löste die längste und heftigste Serie von Protesten und sozialen Unruhen seit Gründung der Islamischen Republik aus. Die anfänglich von Frauen und Mädchen angeführten Proteste fanden im ganzen Land statt und breite Unterstützung unter jungen Menschen, Studenten und einer Reihe von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens unabhängig von Ethnie, Religion, Alter oder Geschlecht. Die dadurch unter erheblichen Druck geratene iranische Regierung reagierte mit massiver Repression auf die Proteste. Zeitweise wurden rund 20.000 Personen inhaftiert, es gab viele Tote auf Seiten der Demonstranten, aber auch Angehörige der Sicherheitskräfte kamen ums Leben. Eine unbekannte Zahl von Personen, wie z. B. Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Studenten, Künstler, Akademiker, Rechtsanwälte, medizinisches Personal, das sich um Protestteilnehmer gekümmert hat, und sogar Minderjährige, wurde wegen "Verbreitung von Propaganda", "Absprachen zur Begehung von Straftaten und Handlungen gegen die nationale Sicherheit" oder "Kriegsführung gegen Gott" sowie "Korruption auf Erden" verurteilt, wobei diese Tatbestände vor den iranischen Revolutionsgerichten mit hohen Strafen geahndet werden.
94Vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 4; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 8; DFAT, Country Information Report Iran vom 24.7.2023, S.24; Königreich der Niederlande, Ministerie van Buitenlandse Zaken, Algemeen ambtsbericht Iran, September 2023, S. 13 (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com).
95Bis zum Sommer 2023 sind die (Straßen-)Proteste schließlich abgeflaut. Die Islamische Republik ist funktionsfähig geblieben, das Regime ist sich allerdings darüber im Klaren, dass seine Legitimität erodiert ist. Die den Protesten zugrundeliegenden Missstände bestehen weiterhin. Nach wie vor kann es aufgrund der anhaltenden Repression durch die Sicherheitskräfte auch zu (spontanen) Protesten kommen, die seitens der Sicherheitskräfte mit unverhältnismäßiger Gewalt und willkürlichen Festnahmen beantwortet werden.
96Vgl. BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 8; AA, Reise- und Sicherheitshinweise für Iran (Stand: 15.3.2024, abrufbar unter https://www.auswaertiges-amt.de /de/ReiseUndSicherheit/iransicherheit/202396, zuletzt abgerufen am 15.3.2024.
97Auch abseits von Demonstrationen und Protestaktionen waren und sind Teile der iranischen Bevölkerung aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit, politischer, künstlerischer oder intellektueller Betätigung oder aufgrund ihrer sexuellen Orientierung starken Repressionen ausgesetzt.
98Vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 4; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 6.
99Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Gegenmaßnahmen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze in Frage stellt. Strafverfolgung erfolgt selbst bei niederschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv. Insbesondere in der Ermittlungsphase nach einer Festnahme kommt es zu Misshandlungen von Verdächtigen, um Geständnisse zu erzwingen. Die Behörden konfrontieren Häftlinge ‑ auch Kinder und Jugendliche - dazu auch mit sexueller Gewalt und anderen Formen der Folter (psychische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung).
100Vgl. AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 9; BfA, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 26.1.2024, S. 17, 49 f., 59 f.; Königreich der Niederlande, Ministerie van Buitenlandse Zaken, Algemeen ambtsbericht Iran, September 2023, S. 106 f. (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com).
101(2.) Bei der Beurteilung der Verfolgungsgefahr gerade aufgrund exilpolitischer Aktivitäten ist unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnislage derzeit von Folgendem auszugehen:
102Der iranische Staat überwacht oppositionelle Gruppierungen und Einzelpersonen auch im Ausland und bedient sich dabei nachrichtendienstlicher Mittel einschließlich solcher der Cyberspionage. Laut dem Verfassungsschutzbericht 2022 des Bundesministeriums des Inneren stellt die Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen und Einzelpersonen im In- und Ausland den Schwerpunkt iranischer nachrichtendienstlicher Aktivitäten dar. Diese gelten aus Sicht der Machthaber im Iran als Gefährdung für den Fortbestand des Regimes. Iranische Behörden - namentlich das Ministerium für Nachrichtenwesen und Sicherheit (MOIS) und der Nachrichtendienst der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC) - setzen danach staatsterroristische Mittel ein, um Oppositionelle auch im Ausland einzuschüchtern und zu neutralisieren sowie "Verräter" oder "Überläufer" zu bestrafen. Ihre Methoden reichen von Bedrohungen in sozialen Medien über die Anwendung physischer Gewalt bis hin zu aufwendigen, komplexen und professional durchgeführten Entführungen hochrangiger Zielpersonen, denen anschließend im Iran Schauprozesse und Hinrichtung drohen.
103Vgl. AI, Stellungnahme für das OVG Schl.-H. vom 20.4.2023, S. 4; Bundesministerium des Inneren (BMI), Verfassungsschutzbericht 2022, 1.8.2023, S. 296 ff. sowie ferner BfA, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, 23.2.2023, S. 3; CTC Sentinel: Trends in Iranian External Assassination, Surveillance, and Abduction Plots 1.2.2022. S. 1 ff., Deutscher Bundestag, BT-Drs. 20/5595, Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage, Aktivitäten und Straftaten der sogenannten islamischen Revolutionsgarde in Deutschland, S. 4; Freedom House, Out of sight, not out of reach, 1.2.2021, S. 35 ff.; SFH, Iran: Überwachung der Diaspora, 24.11.2023, S. 4 f.; US Institute for Peace, Explainer: Tactics of Iranian Intelligence, 17.2.2023, S. 1.
104Dabei liegt das Hauptaugenmerk der iranischen Dienste auf dem Schutz des islamischen Regimes. Ziel der Aufklärung ist deshalb die Identifizierung jeglicher Aktivitäten, die dessen Kontrolle und Autorität gefährden und untergraben könnten.
105Vgl. Bundesamt, Netzaktivitäten - Netzüberwachung, 1.7.2023, S. 6; Deutscher Bundestag, BT-Drs. 20/5595, Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage, Aktivitäten und Straftaten der sogenannten islamischen Revolutionsgarde in Deutschland, S. 4; Landinfo: Iran Internett og sosiale medier, 9.11.2022, S. 31 (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com); US Institute for Peace, Explainer: Tactics of Iranian Intelligence, 17.2.2023, S. 1.
106Es gibt jedoch keine Erkenntnisse, die die Annahme rechtfertigen, dass der Iran zu einer lückenlosen (Total-)Überwachung sämtlicher exilpolitischer Aktivitäten weltweit in der Lage ist. Zwar wurde die Überwachung möglicher Regimekritiker infolge der Unruhen nach dem Tod von Jîna Mahsa Amini im September 2022 verstärkt. Zugleich ist aber auch die Anzahl der aus Sicht des Regimes potentiell überwachungswürdigen Aktivitäten im Ausland und im Iran selbst erheblich gestiegen.
107Vgl. Landinfo: Iran: Overvåking av regimekritikere i utlandet som følge av «Kvinne, liv, frihet-protestene», 5.7.2023, S. 3 f. (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com); Landinfo: Iran Internett og sosiale medier, 9.11.2022, S. 31 (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com); SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023, S. 8 f.
108Angesichts dessen ist davon auszugehen, dass die iranischen Sicherheitsdienste ihre begrenzten Ressourcen im Allgemeinen dort einsetzen, wo sie die größte Gefahr für das islamische Regime vermuten. Wie Fälle nachweislich ins Visier der iranischen Behörden geratener Personen zeigen, ist insoweit insbesondere die (anzunehmende) Möglichkeit der Betreffenden relevant, ggfs. auch vom Ausland aus aufgrund der großen Sichtbarkeit ihrer kritischen Äußerungen Einfluss auf die öffentliche Meinung im Iran zu nehmen.
109Vgl. AA, Auskunft an das OVG Schl.-H. vom 14.6.2023, S. 13 Frage 39; Bundesamt, Netzaktivitäten - Netzüberwachung, 1.7.2023, S. 6 ff.; Landinfo: Iran Internett og sosiale medier, 9.11.2022, S. 4 (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com); SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023, S. 8 f. m. w. N.
110Von Überwachung betroffen sind deshalb etwa Personen, die über soziale Medien oder sonst online mit einer hohen Reichweite und Vernetzung aktiv sind, Personen, die auf Fernsehsendern wie Iran International oder Y. (VOA) zu sehen sind, Angehörige von im Iran verbotenen Parteien und Organisationen sowie Journalisten
111- vgl. AA, Auskunft an das OVG Schl.-H. vom 14.6.2023, S. 13 Frage 39 unter Hinweis auf das Schicksal des Journalisten, Bloggers und Regimekritikers A.; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 19; BfA, Proteste, exilpolitische Tätigkeiten und Vorgehen der iranischen Behörden, 23.2.2023, S. 3 f. etwa zum Vorgehen gegen Influencer und den Oppositionssender Iran International sowie für diesen tätige Journalisten; Bundesamt, Netzaktivitäten - Netzüberwachung, 1.7.2023, S. 6 ff. etwa zur Verfolgung von Journalisten, Schriftstellern, prominenten Schauspielern und Sportlern, Musikern, Influencern und Social-Media-Aktivisten; Landinfo: Iran Internett og sosiale medier, 9.11.2022, S. 4 und 33 ff. zur Verfolgung iranischer Journalisten, die im Ausland arbeiten (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com); SFH, Iran: Überwachung der Diaspora, 24.11.2023, S. 10 f. zur Verfolgung von Journalisten persischsprachiger TV-Sender wie des persischen Dienstes der Deutschen Welle; SFH, Iran: Konsequenzen regierungskritischer Aktivitäten im Ausland bei der Rückkehr, 26.11.2023, S. 11 ff. etwa zur Vergeltung gegen regierungskritische Sportler und Oppositionsfiguren im Exil -,
112wobei der Schwerpunkt der Überwachung jedenfalls der sozialen Medien auf Inhalten in persischer Sprache liegt und der Reichweite der Äußerungen eine größere Bedeutung zukommt als ihrer Quantität.
113Vgl. SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023, S. 8 und 13 m. w. N.
114Neben der Möglichkeit der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung kann auch die Bedeutung bzw. Funktion einer Person innerhalb der iranischen Diaspora bzw. für eine Aktion oder Demonstration entscheidend dafür sein, ob jemand als "Schlüsselperson" in den Fokus der iranischen Behörden gerät. Überwacht werden eher Anführer, Organisatoren und Redner, während etwa einfache Teilnehmer an Demonstrationen eine Überwachung ihrer Aktivitäten und daran anknüpfende "Sanktionen" eher nicht befürchten müssen.
115Vgl. SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023, S. 11; SFH, Iran: Überwachung von Demonstrationen im Ausland, 24.11.2023, S. 7; The Guardian, Iranian activists across Europe are targets of threats and harassment, 5.12.2023, zur Verfolgung auf organisatorischer Ebene für die Protestbewegung "Frau, Leben, Freiheit" tätiger Aktivistinnen.
116Schließlich stehen Diaspora-Netzwerke und jede Form politischer Organisation im Fokus der iranischen Behörden
117- vgl. SFH, Iran: Überwachung der Diaspora, 24.11.2023, S. 13; SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023, S. 9 m. w. N. -,
118wobei die Frage einer einem Mitglied aus seiner Mitgliedschaft erwachsenden Verfolgungsgefahr eine solche des Einzelfalles und von der jeweiligen Organisation sowie der Stellung des Mitglieds darin und dessen Verhalten abhängig ist.
119Personen, die sich nach Maßgabe der vorstehenden Ausführungen exilpolitisch exponiert betätigt haben und deshalb für die iranischen Behörden als Regimegegner erkennbar geworden sind, sind bei einer Rückkehr in den Iran von Repressionen bedroht. Womit sie konkret zu rechnen haben, hängt - wie auch bei Repressionen wegen politischer Aktivitäten im Iran selbst - davon ab, wie das häufig willkürlich handelnde Regime die exilpolitischen Aktivitäten und Äußerungen im Einzelfall bewertet. Zu erwarten sind extralegale Einschüchterung, Schikane und Gewalt durch Amtspersonen und Anhänger des Regimes. Darüber hinaus kommen auf Grundlage der mitunter bewusst unbestimmt formulierten (Straf-)Gesetze - beispielsweise Art.500 (Propaganda gegen die Islamische Republik), Art. 501 (Spionage) und Art. 610 (Bedrohung der nationalen Sicherheit) des islamischen Strafgesetzbuchs - insbesondere auch (straf-)rechtliche Sanktionen wie Beschäftigungsverbote, Ausreisesperren sowie die Verhängung von Geld-, Haft- und sogar Todesstrafe zur Anwendung. Im Iran Inhaftierten droht insbesondere bei politischer Strafverfolgung eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (physische und psychische Folter). So berichtet etwa Freedom House, dass Journalisten, Blogger und Aktivisten, die aufgrund ihrer Online-Aktivitäten Haftstrafen verbüßen, in der Haft häufig misshandelt und sogar gefoltert werden.
120Vgl. AA, Auskunft an das OVG Schl.-H. vom 14.6.2023, S. 13 f. Fragen 38 bis 41; AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 9 f., 16 f. und 19; BMI, Verfassungsschutzbericht 2022, 1.8.2023, S. 297 f.; SFH, Iran: Konsequenzen regierungskritischer Aktivitäten im Ausland bei der Rückkehr, 26.11.2023, S. 4 f. und 8 f.; Freedom House, Freedom on the Net 2023 - Country Report Iran, 4.10.2023, C7.
121bb. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnislage droht dem Kläger bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung. Er hat sich bereits durch die Veröffentlichung eines Videos im Herbst 2019 vom Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus unter Berücksichtigung des Inhalts [(1.)], der Verbreitung [(2.)] und der Rezeption [(3.)] dieses Videos im Iran in exponierter Weise und damit flüchtlingsrechtlich relevant exilpolitisch betätigt.
122(1.) Mit jenem Video hat sich der Kläger eindeutig als Gegner des iranischen Regimes positioniert. Er ist darin zu sehen, während er ein Lied in persischer Sprache singt. Dabei trägt er ein schwarzes T-Shirt, auf dem drei gereckte Fäuste
123- ein international geläufiges Symbol des politischen Widerstands, vgl. https://de.wikipedia.org/ wiki/Erhobene_Faust, zuletzt abgerufen am 7.3.2024 -
124in den Farben der Flagge des Iran abgebildet sind. Der Text des Liedes lautet in der deutschen Übersetzung:
125"Alle Gelehrten wissen, dass wir alle gleich sind, ob Frau oder Mann, wir alle lieben den Fußball;
126Der Diktator muss wissen, dass seine Tage gekommen sind, wir - alle Völker des Iran - unterstützen uns gegenseitig;
127Blaues Mädchen, dein Name ist unsterblich, du bist die Leerstelle auf den Tribünen der Fußballstadien, [du bist] eine der starken Frauen des Iran."
128Mit dem vorgetragenen Lied verhält sich der Kläger zum sogenannten "blauen Mädchen", der Iranerin Sahar Khodayari. Diese schlich sich - ganz in Blau ge-/verkleidet - im März 2019 verbotenerweise in das Azadi-Stadion in Teheran, um ein Spiel der in blauen Trikots spielenden Mannschaft von Esteghalal Teheran zu sehen. Sie wurde als Frau "enttarnt", verhaftet und drei Tage im Gefängnis festgehalten, ehe sie gegen Kaution bis zur Gerichtsverhandlung wieder freigelassen wurde. Als sie bei einem Gerichtstermin am 2.9.2019 erfuhr, dass ihr für den Besuch des Fußballspiels ein halbes Jahr Haft drohte, übergoss sie sich mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündete sich an. 90 Prozent der Haut verbrannten, sie starb Tage später an ihren Verletzungen. Das iranische Regime ließ sie ohne Beisein ihrer Familie außerhalb ihres Geburtsortes Qom begraben, eine Trauerfeier wurde untersagt. Die iranische Presse durfte nicht über den Fall berichten. Der Sachverhalt wurde trotzdem öffentlich bekannt und löste im Iran heftige Reaktionen aus. Das "blaue Mädchen" wurde in den sozialen Medien bald zur Märtyrerin des Protestes gegen die Unterdrückung der Frauen.
129Vgl. dazu nur Süddeutsche Zeitung, Das "blaue Mädchen" wird zur Ikone des Protests, 11.9.2019, abrufbar unter www.sueddeutsche.de/sport/iran-blaues-maedchen-1.4596885; Frankfurter Allgemeine Zeitung, Das "blaue Mädchen" ist tot, 10.9.2019, abrufbar unter www.faz.net/aktuell/ sport/fussball /das-blaue-maedchen-ist-tot-16377503.html; EMMA, Das blaue Mädchen: Für die Freiheit!, 13.9.2019, abrufbar unter www.emma.de/artikel/iranerin-selbstverbrennung-fuer-die-freiheit-337137; Iran Journal, Wut nach Tod des "blauen Mädchens", 10.9.2019, abrufbar unter www.iranjournal.org/news/iran-wut-tod-blaues-maedchen, alle zuletzt abgerufen am 5.3.2024.
130(Nicht nur) Vor dem Hintergrund des damaligen Geschehens hat der Kläger mit seinem Lied und Video gleich in mehrfacher Hinsicht seine oppositionelle Haltung zum iranischen Regime deutlich gemacht. Zunächst betont er die Gleichheit von Frau und Mann und kritisiert anhand des Beispiels des "blauen Mädchens" die im Iran vom Regime gewollte und zu verantwortende Diskriminierung von Frauen in rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht.
131Vgl. dazu nur AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 12 f.
132Darüber hinaus beschwört er auch die Einheit der Völker des Iran, während das iranische Regime Angehörige ethnischer Minderheiten, die insgesamt knapp die Hälfte der iranischen Bevölkerung ausmachen, auf vielfältige Weise benachteiligt. Ihnen wird z. B. der Zugang zu höherer Bildung, zum Arbeitsmarkt, zu angemessenem Wohnraum und zu politischen Ämtern erschwert. Personen, die sich für den Erhalt der sprachlichen oder kulturellen Identität einsetzen, werden oft als Separatisten verfolgt und teils zu langen Haftstrafen verurteilt.
133Vgl. dazu nur AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 14 f.
134Schließlich ruft der Kläger der Sache nach zum (gemeinsamen) Sturz des "Diktators" und seines Regimes auf. Damit zieht er in besonderer Weise den Blick der iranischen Behörden auf sich, deren Hauptaugenmerk auf dem Schutz des islamischen Regimes liegt und deren Aktivitäten darauf gerichtet sind, dessen Kontrolle und Autorität zu erhalten.
135(2.) Auch die Verbreitung seines Videos hebt den Kläger - sowohl im Hinblick auf die erzielte Reichweite als auch auf den Verbreitungsweg - aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen heraus und macht ihn für die iranischen Behörden als Regimegegner nicht nur erkennbar, sondern auch zu einem Ziel, dessen Verfolgung den Einsatz ihrer begrenzten Ressourcen rechtfertigt.
136Zwar ist nicht nachgewiesen, dass der Kläger - wie er behauptet - das Video zunächst selbst bei Telegram veröffentlicht hat und es dort 300.000 mal angeklickt worden ist. Auch die Behauptung des Klägers, das Video sei später durch den im Dezember 2020 hingerichteten Blogger und Regimekritiker A. auf dessen Telegram-Kanal mit damals über 1,4 Millionen Nutzern veröffentlicht worden, ist nicht belegt. Jedenfalls aber wurde ein Ausschnitt des Videos am 21.9.2019 im persisch-sprachigen Programm des US-Auslandssenders "Y." (VOA 365) ausgestrahlt und ist über dessen Homepage nach wie vor abrufbar. Das Programm des Senders erreicht wöchentlich rund ein Viertel der erwachsenen iranischen Bevölkerung, d. h. etwa 18 Mio. Menschen, daneben eine unbekannte Anzahl von Personen in der iranischen Diaspora und aufgrund der Ausstrahlung in persischer Sprache alle Bevölkerungsschichten.
137Vgl. zu der Reichweite des Programms VOA 365, Global, Dynamic, Cross-Platform, abrufbar unter https://docs.voanews.eu/en-US-INSIDE/2019/03/ 07 /324d6b1b-f03e-4fa4-85fd-147053bfa969 .pdf, zuletzt abgerufen am 7.3.2024; vgl. zur Bevölkerung des Iran: Wirtschaftskammer Österreich, Länderprofil Iran (Stand: Februar 2024), S. 3.
138Schon die mit der Ausstrahlung bei VOA 365 erzielte immense Reichweite des Videos lässt das darin liegende exilpolitische Engagement des Klägers für die iranischen Behörden relevant werden. Dazu trägt überdies die Verbreitung des Videos gerade über VOA 365 bei. Denn VOA 365 soll nach den Angaben der zuständigen Aufsichtsbehörde U.S. Agency for Global Media den Desinformationsbemühungen des iranischen Regimes entgegenwirken und die Bemühungen der USA verstärken, das iranische Volk und die iranische Diaspora direkt anzusprechen.
139Vgl. zu den Zielen des Programms VOA 365, Global, Dynamic, Cross-Platform, abrufbar unter https://docs.voanews.eu/ en-US-INSIDE/2019/ 03/07/324d6b1b-f03e-4fa4-85fd-147053bfa969 .pdf, zuletzt abgerufen am 7.3.2024.
140Der Sender und die für ihn arbeitenden Journalisten stehen - mit Blick auf die offen kommunizierte Zielrichtung des Programms: selbstverständlich - unter der Beobachtung des iranischen Regimes
141- vgl. Landinfo: Iran Internett og sosiale medier, 9.11.2022, S. 34 (maschinelle Übersetzung mittels deepl.com) m. w. N. -
142und auch wer sonst dort zu sehen ist, gerät allein deshalb in das Blickfeld der iranischen Behörden und Sicherheitsdienste.
143Vgl. SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023, S. 12.
144(3.) Schließlich hat der Kläger mit seinem Video neben der in der Reichweite zum Ausdruck kommenden bloßen Aufmerksamkeit auch Reaktionen im Iran hervorgerufen. So findet sich auf YouTube ein Video, das Fußballfans im Nordiran zeigt, die anlässlich eines Spiels der Teams Damash Gilan (Rasht) gegen Kerman das vom Kläger vorgetragene Lied skandieren.
145Vgl. https://www.youtube.com/watch?v= ecPgqZL06Qc, zuletzt abgerufen am 5.3.2024.
146Kommt es zu solchen Auswirkungen einer (exilpolitischen) Meinungsäußerung im Iran, die - ähnlich wie etwa "Retweets", sonstige Bezugnahmen und Zitate - nicht nur deren Reichweite (weiter) erhöhen, sondern auch belegen, dass die Meinungsäußerung die Bevölkerung des Iran inhaltlich erreicht und einen Trend gesetzt oder eine Debatte ausgelöst hat, weckt dies die Aufmerksamkeit des Regimes in besonderem Maße. Denn es schreibt dem Urheber der Meinungsäußerung deshalb Einfluss auf die öffentliche Meinung im Iran zu, die es selbst zu kontrollieren versucht.
147Vgl. SFH, Iran: Überwachung der sozialen Medien im Ausland, 25.11.2023, S. 12 f.
148Zwar dürfte der Nachweis solcher Auswirkungen exilpolitischen Engagements häufig kaum möglich und bei einem im Übrigen hinreichend exponierten Tätigwerden auch nicht zwingend erforderlich sein, um es für flüchtlingsrelevant zu halten. Lässt er sich aber - wie hier - führen, rundet er das Bild des Betroffenen als einer exilpolitisch in exponierter Weise tätigen Person ab.
1493. Anderweitiger Schutz durch Akteure gemäß § 3d AsylG oder durch die Inanspruchnahme internen Schutzes gemäß § 3e AsylG steht dem Kläger nicht zur Verfügung. Ob einem Ausländer in einem anderen Landesteil keine für den internationalen Schutz relevanten Gefahren drohen, ist regelmäßig nur dann entscheidungserheblich, wenn die in einem Landesteil drohenden Gefahren nicht von dem Staat ausgehen. Erwägungsgrund 27 Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU geht davon aus, dass bei staatlicher Verfolgung eine Vermutung dafür bestehen soll, dass dem Antragsteller kein wirksamer Schutz zur Verfügung steht.
150Vgl. BVerwG, Urteil vom 18.2.2021 ‑ 1 C 4.20 ‑, BVerwGE 171, 300 = juris Rn. 14.
151So liegt der Fall hier. Die drohende Verfolgung geht vom Staat aus, dessen starke Zentralregierung über ihre mächtigen Sicherheits- und Geheimdienstbehörden das gesamte Staatsterritorium kontrolliert. Soweit Repressionen praktiziert werden, geschieht dies landesweit unterschiedslos. Zivile und militärische Verwaltungsstrukturen arbeiten effektiv. Ausweichmöglichkeiten bestehen nicht.
152Vgl. dazu nur AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand 18.11.2022 vom 30.11.2022, S. 19; BfA, Länderinformation der
153Staatendokumentation - Iran, 13.4.2023, S. 9.
154II. Die Ziffern 1 sowie 3 bis 6 des Bescheides vom 19.6.2017 sind aufzuheben. Infolge der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat hinsichtlich der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3 des Bescheides) und der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 4 des Bescheides) keine Entscheidung mehr zu ergehen (§ 31 Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 AsylG); im Hinblick auf die Ziffern 5 und 6 liegen die Voraussetzungen für die getroffenen Entscheidungen nicht vor (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AsylG, § 75 Nr. 12 AufenthG).
155C. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
156Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.