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§ 60 Abs. 9 AufenthG findet auch dann Anwendung, wenn der Asylantrag des Ausländers bereits abgelehnt wurde und gegen diese Ablehnung eine Klage erhoben wurde, die nach § 75 AsylG aufschiebende Wirkung hat.
Die Prüfung im Rahmen von § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG, ob ein Fall des Absatzes 8 vorliegt, obliegt allein der Ausländerbehörde.
Die Prüfung im Rahmen von § 60 Abs. 9 Satz 2 AufenthG, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 bis 7 vorliegt, obliegt allein der Ausländerbehörde.
1. Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe:
2Den wörtlich gestellten Antrag,
3„Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Stadt H. Amt für Migration und Zusammenleben (Az.: K291293001) vom 15.11.2023, insbesondere die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 15.11.2023 wird angeordnet“,
4und den weiteren Antrag,
5„die aufschiebende Wirkung der eingelegten Klage gegen den Bescheid der Stadt H. Amt für Migration und Zusammenleben (Az.: K291293001) vom 15.11.2023 wiederherzustellen“,
6legt die Kammer bei verständiger Würdigung (vgl. §§ 122 Abs. 1, 88 der Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO]) zunächst dahingehend aus, dass es sich bei diesen Anträgen um einen einheitlichen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO betreffend die gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 15. November 2023 erhobene Klage (Aktenzeichen 11 K 60/24) handelt, der zum einen die Anordnung (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 1 VwGO) und zum anderen die Wiederherstellung (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 2 VwGO) der aufschiebenden Wirkung der Klage zum Ziel hat. Im Weiteren legt die Kammer diesen einheitlichen Antrag dahingehend aus, dass der Antragsteller in Anbetracht der im Rahmen des Antrages nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 1 VwGO gewählten Formulierung „insbesondere“ insoweit nicht lediglich die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in der Ordnungsverfügung vom 15. November 2023 verfügte Abschiebungsandrohung, sondern hinsichtlich sämtlicher kraft Gesetzes sofort vollziehbarer Regelungen, die in der Ordnungsverfügung enthalten sind, begehrt, nämlich hinsichtlich der Ablehnung des Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Ziffer 2. (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes [AufenthG]), der Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. (§ 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 112 des Justizgesetzes Nordrhein-Westfalen [JustG NRW]) sowie des Einreise- und Aufenthaltsverbotes in Ziffer 4. (§ 84 Abs. 1 Nr. 7 AufenthG). Weiter legt die Kammer den Antrag dahingehend aus, dass der Antragsteller hinsichtlich der Ausweisung in Ziffer 1., deren sofortige Vollziehung in Ziffer 5. nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO angeordnet wurde, die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 2 VwGO begehrt.
7Der so verstandene Antrag hat insgesamt keinen Erfolg.
8Der Antrag ist bereits unzulässig, soweit er sich gegen die Ziffern 1. und 2. der Ordnungsverfügung richtet. Im Übrigen ist der Antrag zulässig, aber unbegründet.
91.
10Der Antrag ist unzulässig, soweit er sich gegen Ziffer 1. der Ordnungsverfügung (Ausweisung) richtet.
11Für einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Ausweisung besteht nämlich kein Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Betroffene auch unabhängig von dieser vollziehbar ausreisepflichtig ist, weil in diesem Fall selbst der Erfolg des Antrages an der Rechtsstellung des Betroffenen nichts ändern würde,
12vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Beschluss vom 20. Dezember 2018 – 18 B 1083/17 –, juris.
13Dies ist hier der Fall.
14Denn der Antragsteller ist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG unabhängig von der Ausweisung vollziehbar ausreisepflichtig.
15Der Antragsteller ist nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, weil er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt.
16Der Ausreisepflicht steht nicht entgegen, dass der Antragsteller nach Stellung eines Asylantrages am 23. März 2022 zunächst im Besitz einer Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) war. Denn diese Aufenthaltsgestattung ist infolge der nach § 60 Abs. 9 AufenthG erlassenen und nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 112 JustG NRW vollziehbaren Abschiebungsandrohung in Ziffer 3. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung erloschen (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG). Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der gegen diese Abschiebungsandrohung gerichteten Klage hat, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen unter 3. ergibt, keinen Erfolg.
17Die Ausreisepflicht des Antragstellers ist auch nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG vollziehbar. Danach ist die Ausreisepflicht u.a. dann vollziehbar, wenn trotz erfolgter Stellung eines Antrages auf Erteilung eines Aufenthaltstitels der Aufenthalt nicht nach § 81 Abs. 3 AufenthG als erlaubt gilt.
18Eine solche Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 AufenthG ist insbesondere nicht infolge des erstmals am 23. August 2022 bei der Zentralen Ausländerbehörde Bielefeld gestellten Antrages des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG eingetreten. Nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gilt der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als erlaubt. Diese Voraussetzungen sind im Falle des Antragstellers nicht erfüllt, weil er sich schon im Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis am 23. August 2022 nicht rechtmäßig ohne Aufenthaltstitel im Bundesgebiet aufhielt.
19Die Erlaubnisfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist zunächst nicht infolge der seinerzeit noch bestehenden Aufenthaltsgestattung eingetreten. Denn insoweit wird der Eintritt einer Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG durch die speziellen asylrechtlichen Bestimmungen von § 55 Abs. 2 und § 43 Abs. 2 Satz 2 AsylG eingeschränkt bzw. verdrängt. Diese Regelungen sollen – wie auch § 55 Abs. 3 AsylG – bei erfolglosen Asylbewerbern grundsätzlich die Ableitung eines aufenthaltsrechtlichen Vorteils aus einem Verfahren auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels bzw. aus der (bloßen) Dauer aussichtsloser Asylverfahren verhindern. Wird der Antrag auf (erstmalige) Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach dem eine Aufenthaltsgestattung auslösenden Asylantrag gestellt, so muss aus den genannten Vorschriften, insbesondere aus § 55 Abs. 2 Satz 1 AsylG, und dem dargestellten Regelungszweck geschlossen werden, dass dann die mit einer Antragstellung gegebenenfalls verbundenen Fiktionen gleichfalls nicht eintreten sollen,
20Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH B-W), Beschluss vom 3. Juni 2020 – 11 S 427/20 –, juris.
21Ein rechtmäßiger titelfreier Aufenthalt ergab sich für den Antragsteller auch nicht aus § 2 Abs. 1 der Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung (UkraineAufenthÜV) in der seinerzeit gültigen Fassung, wonach Ausländer, die sich am 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben und die bis zum Außerkrafttreten dieser Verordnung (seinerzeit: mit Ablauf des 31. August 2022) in das Bundesgebiet eingereist sind, ohne den für einen langfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen, vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit waren. Es mag dahinstehen, ob sich der Antragsteller, der nach eigenen Angaben am 28. Februar 2022 oder 1. März 2022 von Polen aus ins Bundesgebiet einreiste, am 24. Februar 2022 überhaupt noch in der Ukraine oder bereits in Polen aufgehalten hat. Denn jedenfalls war die Befreiung nach § 2 Abs. 1 UkraineAufenthÜV mit der Stellung des Asylantrages am 23. März 2022 durch den Antragsteller bereits erloschen, § 55 Abs. 2 Satz 1 AsylG.
22War der Antragsteller danach mit Stellung des Asylantrages am 23. März 2022 nicht mehr vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit, so ergibt sich ein Rechtsschutzbedürfnis für den die Ausweisung betreffenden Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 2 VwGO von vornherein auch nicht mit Blick auf § 51 Abs. 5 Hs. 1 AufenthG, wonach eine Befreiung vom Erfordernis des Aufenthaltstitels u.a. dann entfällt, wenn der Ausländer ausgewiesen wird. Denn die Befreiung war, wie dargelegt, infolge der Asylantragstellung bereits zuvor entfallen und nicht erst mit der Ausweisung des Antragstellers.
232.
24Der Antrag ist auch unzulässig, soweit er sich gegen Ziffer 2. der Ordnungsverfügung (Ablehnung des Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis) richtet.
25Denn vorläufiger Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Versagung einer Aufenthaltserlaubnis kommt nur in Betracht, soweit und sofern mit der angegriffenen Ordnungsverfügung die Wirkung eines belastenden Verwaltungsaktes verbunden ist, indem damit ein Bleiberecht des Antragstellers in Form einer Erlaubnis- oder Duldungsfiktion nach § 81 Abs. 3 oder Abs. 4 AufenthG beendet wird. Der mit Ziffer 2. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung abgelehnte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 23. August 2022 hatte indes nach den vorstehenden Ausführungen unter 1. keine Fiktionswirkung im vorgenannten Sinn.
263.
27Soweit sich der Antrag gegen die in Ziffer 3. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung enthaltene Abschiebungsandrohung richtet, ist der nach § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 112 JustG NRW statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag unbegründet.
28Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Fall 1 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung des gegen einen Verwaltungsakt gerichteten Rechtsbehelfs anordnen, wenn das Interesse des Adressaten, von der Vollziehung einer Maßnahme vorläufig verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der Vollziehung überwiegt. Im Rahmen dieser Abwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. An der Vollziehung einer offensichtlich rechtswidrigen Maßnahme kann nämlich kein öffentliches Interesse bestehen. Ist hingegen die vollziehbare Maßnahme offensichtlich rechtmäßig, so kann das Interesse des Betroffenen am Aufschub der Vollziehung grundsätzlich als gering veranschlagt werden.
29Hiervon ausgehend fällt die Interessenabwägung zu Ungunsten des Antragstellers aus, weil sich die Abschiebungsandrohung als offensichtlich rechtmäßig erweist.
30Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 59 Abs. 1 Satz 1, 58 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 9 AufenthG.
31Die Abschiebungsandrohung ist formell rechtmäßig. Insbesondere ist die Ausländerbehörde der Antragsgegnerin auch für den Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG sachlich zuständig. Dies ergibt sich aus der allgemeinen Zuständigkeitsregelung in § 71 Abs. 1 Satz 1 AufenthG, wonach die Ausländerbehörden u.a. für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen nach dem AufenthG zuständig sind. Eine besondere Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für den Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG ist insbesondere nicht in § 75 AufenthG geregelt.
32Auch die materiellen Voraussetzungen nach §§ 59 Abs. 1 Satz 1, 58 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 9 AufenthG sind erfüllt.
33Nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen, wenn keine Abschiebungsverbote vorliegen und der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen.
34Die Abschiebungsandrohung erfordert insbesondere die Ausreisepflicht gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG, die hier nach den vorstehenden Ausführungen unter 1. vorliegt. Auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht, die hier im Übrigen nach dem Vorstehenden vorliegt, kommt es für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung nach der Rechtsprechung der beiden für das Ausländerrecht zuständigen Senate des OVG NRW,
35vgl. Beschluss vom 24. Januar 2023 – 17 B 74/23 –, m.w.N., n.v., in dem zur Begründung auf die umfangreichen Ausführungen des 18. Senats – hier im Beschluss vom 20. Februar 2009 – 18 A 2620/08 –, juris – Bezug genommen wird,
36der die Kammer zur Wahrung der Rechtseinheitlichkeit und mit Blick auf die Begründung im zitierten Beschluss des 18. Senats folgt, nicht an.
37Dem Erlass der Abschiebungsandrohung steht ferner nicht entgegen, dass das Asylverfahren des Antragstellers noch nicht rechtskräftig abgeschlossen ist.
38Denn im Falle des Antragstellers ist die Abschiebungsandrohung trotz des laufenden Asylverfahrens ausnahmsweise nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG zulässig.
39Danach kann in den Fällen des § 60 Abs. 8 AufenthG einem Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes die Abschiebung angedroht und diese durchgeführt werden.
40§ 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG ist auf die vorliegende Konstellation anwendbar. Denn der Antragsteller ist im Sinne dieser Vorschrift ein „Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat“. Dass der Asylantrag des Antragstellers bereits mit Bescheid des BAMF vom 3. Januar 2023 als „einfach unbegründet“ abgelehnt und dem Antragsteller dort die Abschiebung angedroht wurde, ändert hieran nichts, weil diese Ablehnung infolge des laufenden asylgerichtlichen Verfahrens noch nicht bestandskräftig ist und die Klage hiergegen insgesamt aufschiebende Wirkung hat (§ 75 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 38 Abs. 1 AsylG).
41Soweit in der Literatur diesbezüglich ausgeführt wird, dass § 60 Abs. 9 AufenthG voraussetze, dass ein Asylantrag wirksam gestellt und darüber noch nicht „endgültig“ positiv oder negativ entschieden wurde, weil mit der Bescheidung des Antrages der Antragstellerstatus ende und der Antragsteller damit entweder zum anerkannten Asylberechtigten oder aber zum abgelehnten Asylbewerber werde,
42so Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Januar 2012) Rn. 285; ebenso wohl Koch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 01.07.2020) Rn. 58 („abschließend“),
43kann dies nur so verstanden werden, dass mit der „endgültigen“ Entscheidung eine bestandskräftige Entscheidung des BAMF gemeint ist, in deren Folge die Aufenthaltsgestattung erlischt (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG), bzw. dass § 60 Abs. 9 AufenthG solange Anwendung findet, wie dem Ausländer nach den Vorschriften des AsylG eine Aufenthaltsgestattung zusteht,
44Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 1. März 2020) Rn. 161; ebenso wohl auch zum zeitlichen Anwendungsbereich Bender/Bethke/Dorn, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 67 AsylG Rn. 71 f.
45Dies ergibt, entgegen der in der gerichtlichen Hinweisverfügung vom 9. Januar 2024 erfolgten vorläufigen Einschätzung nach erneuter Überprüfung, eine Auslegung des § 60 Abs. 9 AufenthG.
46Der Wortlaut („Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat“), bleibt insoweit zunächst unklar. Grundsätzlich ließe dieser Wortlaut auch eine solche Lesart zu, wonach auch eine noch nicht bestandskräftige Entscheidung über den Asylantrag den persönlichen Anwendungsbereich von § 60 Abs. 9 AufenthG ausschließt. Denn mit der Entscheidung des BAMF über den Asylantrag ist dieser nicht mehr nur „gestellt“, sondern bereits beschieden.
47Gegen eine solche Lesart spricht aber bereits die systematische Auslegung der Vorschrift. Denn in weiteren Regelungen des AufenthG und des AslyG endet der Asylantragstellerstatus stets erst mit der Bestandskraft der Entscheidung über den Asylantrag. So regelt etwa § 53 Abs. 4 Satz 1 AufenthG, dass ein „Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat“, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden kann, dass das Asylverfahren „unanfechtbar“ ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes abgeschlossen wird. Auch § 10 Abs. 1 Satz 1 AufenthG regelt, dass ein „Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat“, vor dem „bestandskräftigen Abschluss“ des Asylverfahrens ein Aufenthaltstitel nur in den dort weiter genannten Fällen erteilt werden darf. Ferner regelt § 15 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, dass ein „Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat“, nicht zurückgewiesen werden darf, solange ihm der Aufenthalt im Bundesgebiet nach den Vorschriften des AsylG gestattet ist; die Aufenthaltsgestattung nach dem AsylG erlischt aber regelmäßig erst dann, wenn die Entscheidung des Bundesamtes unanfechtbar geworden ist (§ 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG). Bereits dieser systematische Vergleich legt nahe, dass das AufenthG davon ausgeht, dass der Asylantragstellerstatus („Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat“) erst endet mit bestandskräftigem Abschluss des Asylverfahrens, resp. solange fortdauert, wie nicht bestandskräftig über den Antrag entschieden wurde.
48Dagegen, dass – bei wortgleicher Formulierung – der Asylantragstellerstatus im Rahmen von § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG abweichend hiervon bereits vor dem bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens enden soll, spricht im Weiteren auch eine historische Auslegung. Die Regelung in § 60 Abs. 9 AufenthG entspricht der Regelung in § 52 des Ausländergesetzes (AuslG), die bis zum 31. Dezember 2004 galt. In der Gesetzesbegründung hierzu (Bundestag-Drucksache 12/2062, S. 45) wurde ausgeführt:
49„Das bisher in § 52 AuslG durch Verweisung auf § 51 AuslG geregelte Verbot der Abschiebung von Asylbewerbern ist überflüssig geworden, da nach dem neuen Asylverfahrensrecht alle Asylbewerber die Aufenthaltsgestattung bekommen und schon deshalb mangels Ausreisepflicht nicht abgeschoben werden dürfen. Durch Verweisung auf § 51 Abs. 3 AuslG (bisher § 51 Abs. 4 AuslG) ist nur noch zu regeln, daß Asylbewerber unter denselben Voraussetzungen in das – behauptete – Verfolgerland abgeschoben werden dürfen wie Asylberechtigte. Diesem beschränkten Regelungsbedarf entspricht die Neufassung des § 52 AuslG“.
50Insbesondere die danach vom Gesetzgeber verfolgte Gleichstellung von Asylbewerbern und Asylberechtigten („wie Asylberechtigte“) spricht dafür, dass der Asylbewerberstatus nach dem Willen des Gesetzgebers solange fortdauert, wie keine bestandskräftige Entscheidung über den Asylantrag erfolgt. Durch die Vorgängerregelung in § 52 AuslG wollte der Gesetzgeber ersichtlich die Möglichkeit schaffen, Abschiebungen auch schon vor dem – ggf. positiven – bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens vornehmen zu können. Diesem Willen des Gesetzgebers liefe es zuwider, wenn zwischen der Bescheidung des Asylantrages und der Bestandskraft dieser Entscheidung ein Zeitfenster vorläge, in dem eine Abschiebung faktisch nicht möglich wäre.
51Dafür, dass auch noch der Fall einer noch nicht bestandskräftigen Entscheidung über den Asylantrag in den Anwendungsbereich von § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG fällt, spricht schließlich auch eine teleologische Auslegung der Vorschrift. Es liefe dem soeben dargelegten gesetzgeberischen Ziel zuwider, wenn bereits eine nicht bestandskräftige Entscheidung über den Asylantrag den Anwendungsbereich von § 60 Abs. 9 AufenthG ausschließen würde. Denn so könnten Ausländer wie der Antragsteller, deren Asylantrag „einfach unbegründet“ abgelehnt wurde, während eines sich anschließenden asylgerichtlichen Verfahrens nicht abgeschoben werden, weil die asylrechtliche Abschiebungsandrohung nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG in dieser Zeit suspendiert ist und nach Erlass einer asylrechtlichen Abschiebungsandrohung dann grundsätzlich keine Befugnis der Ausländerbehörden zum Erlass einer Abschiebungsandrohung nach dem AufenthG bestünde. Dieser Vorrang der asylrechtlichen Abschiebungsandrohung soll aber durch die Vorschrift in § 60 Abs. 9 AufenthG gerade durchbrochen werden, wenn ein Fall des § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegt. Ein besonderes öffentliches Interesse an der Abschiebung des Ausländers besteht in den Fällen des § 60 Abs. 8 AufenthG ersichtlich nicht nur bis zur Bescheidung des Asylantrages, sondern auch anschließend bis zu dem Zeitpunkt, in dem die asylrechtliche Abschiebungsandrohung vollziehbar wird. Denn § 60 Abs. 8 AufenthG trägt gerade Gefahren für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder für die Allgemeinheit Rechnung, mit denen regelmäßig ein erhebliches öffentliches Interesse an der Beendigung des Aufenthaltes des Ausländers, von dem die Gefahr ausgeht, einhergeht. Die gegenteilige Ansicht – keine Anwendbarkeit von § 60 Abs. 9 AufenthG nach Bescheidung des Asylantrages – würde außerdem zu dem Wertungswiderspruch führen, dass ein als „einfach unbegründet“ abgelehnter Asylbewerber – wie der Antragsteller – bessergestellt würde als ein Asylbewerber, über dessen Asylantrag noch gar nicht entschieden wurde. Denn gegen Letzteren könnte nach § 60 Abs. 9 AufenthG eine sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen ergehen, während eine Aufenthaltsbeendigung von Ersterem frühestens nach Bestandskraft bzw. rechtskräftigen Abschluss des asylgerichtlichen Verfahrens vollzogen werden könnte. Das aus § 60 Abs. 8 AufenthG folgende öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung besteht indes in beiden Fällen bzw. in beiden Zeiträumen in gleicher Weise.
52In welchem Verhältnis die Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 AufenthG zu der (derzeit suspendierten) asylrechtlichen Abschiebungsandrohung steht, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn Grundlage einer Abschiebung des Antragstellers ist gegenwärtig allein die nach § 60 Abs. 9 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung, nicht aber die infolge der asylgerichtlichen Klage gegenwärtig suspendierte Abschiebungsandrohung des BAMF vom 3. Januar 2023. Ob hierdurch die asylrechtliche Abschiebungsandrohung „überholt“ wird oder diese ggf. nach rechtskräftigem Abschluss des asylgerichtlichen Verfahrens wiederauflebt und damit weiterhin Rechtswirkung zeitigt, bedarf jedenfalls im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, in dem die asylrechtliche Abschiebungsandrohung suspendiert ist, keiner Entscheidung.
53Ist danach der persönliche Anwendungsbereich des § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG eröffnet, so sind auch die übrigen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt. Denn es liegt ein Fall des § 60 Abs. 8 AufenthG vor.
54Die Antragsgegnerin ist für die Prüfung, ob ein Fall des § 60 Abs. 8 AufenthG vorliegt, sachlich zuständig.
55Soweit in der Literatur teilweise die Auffassung vertreten wird, dass die Prüfung insoweit allein dem BAMF obliege,
56Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, § 60 AufenthG Rn. 79; Koch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 01.07.2020) Rn. 58,
57folgt das Gericht dem nicht. Denn die Vorschrift in § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG regelt gerade die Befugnis der Ausländerbehörde, trotz laufenden Asylverfahrens eine Abschiebungsandrohung zu erlassen. Insoweit wird die grundsätzlich ausschließliche Kompetenz des BAMF, mit der Entscheidung über den Asylantrag auch die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 1 bis 8 AufenthG zu prüfen, im Rahmen von § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG durchbrochen („abweichend von den Vorschriften des Asylgesetzes“). Dies führt in der Konsequenz dazu, dass auch die Prüfung des Vorliegens eines Falles des § 60 Abs. 8 AufenthG im Rahmen des Erlasses einer Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG allein durch die Ausländerbehörde zu erfolgen hat.
58wie hier Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Januar 2012) Rn. 290; Funke-Kaiser, in: ders., GK-AsylG, § 69 (Stand: 01.08.2023) Rn. 35.
59Auch nach der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung bedarf es, soweit ersichtlich, i.R.v. § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG keiner Entscheidung des BAMF über das Vorliegen eines Falles des § 60 Abs. 8 AufenthG,
60vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Beschlüsse vom 22. Mai 2018 – 1 VR 3/18 – und vom 21. März 2017 – 1 VR 2/17 –, jeweils juris.
61Die gegenteilige Auffassung überzeugt nicht. Ihr ist insbesondere entgegenzuhalten, dass eine Entscheidung des BAMF über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 AufenthG grundsätzlich erst im Rahmen der abschließenden Entscheidung über den Asylantrag ergeht. § 60 Abs. 9 AufenthG betrifft aber – wie oben bereits dargelegt – insbesondere den Zeitraum vor dieser Entscheidung und im Weiteren bis zum bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens. Eine Zwischenentscheidung des BAMF nach § 60 Abs. 8 AufenthG ist indes weder nach dem AsylG noch nach dem AufenthG vorgesehen und kann insoweit auch nicht durch die Ausländerbehörde herbeigeführt werden. Im Übrigen würde der oben dargestellte Gesetzeszweck, Ausländer trotz laufenden Asylverfahrens abschieben zu können, ersichtlich unterlaufen, wenn der Erlass der Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG faktisch erst im Anschluss an die Entscheidung des BAMF über den Asylantrag erfolgen könnte.
62Insoweit mag auch dahinstehen, ob bei der Prüfung des Vorliegens eines Falles nach § 60 Abs. 8 AufenthG durch die Ausländerbehörde in entsprechender Anwendung des § 72 Abs. 2 AufenthG zuvor eine Beteiligung des BAMF erfolgen sollte,
63so der Vorschlag von Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Januar 2012) Rn. 291; hierfür wohl auch Koch, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 01.07.2020) Rn. 59.
64Denn auf das Ausbleiben einer Beteiligung nach § 72 Abs. 2 AufenthG kann sich der Ausländer nicht berufen, da das Beteiligungserfordernis keine verfahrensrechtliche Schutznorm darstellt, die das Ziel verfolgt, Rechte des Ausländers zu wahren,
65OVG NRW, Beschlüsse vom 19. November 2020 – 18 B 1639/20 – und vom 30. August 2012 – 17 B 751/12 –, jeweils juris,
66was für den Fall einer etwaigen entsprechenden Anwendung von § 72 Abs. 2 AufenthG erst recht gelten muss.
67Nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG findet § 60 Abs. 1 AufenthG keine Anwendung, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Diese Ausschlussklausel bringt eine verfassungsimmanente Schranke des Asylgrundrechts zum Ausdruck,
68BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 – 1 VR 2/17 –, m.w.N., juris.
69Der Antragsteller ist aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen (§ 60 Abs. 8 Satz 1 Fall 1 AufenthG).
70Der Begriff der „Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ ist – wie die wortgleiche Formulierung in § 54 Abs. 1 Nr. 2 und § 58a Abs. 1 Satz 1 AufenthG – enger zu verstehen als der Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des allgemeinen Polizeirechts. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland umfasst die innere und äußere Sicherheit und schützt nach innen den Bestand und die Funktionstüchtigkeit des Staates und seiner Einrichtungen. Das schließt den Schutz vor Einwirkungen durch Gewalt und Drohungen mit Gewalt auf die Wahrnehmung staatlicher Funktionen ein. In diesem Sinne richten sich auch Gewaltanschläge gegen Unbeteiligte zum Zwecke der Verbreitung allgemeiner Unsicherheit gegen die innere Sicherheit des Staates,
71BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 – 1 VR 1/17 –, juris.
72Schwerwiegende Gründe liegen vor, wenn der Ausländer entweder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit beeinträchtigen wird oder das Gefährdungspotential des Ausländers ein sehr hohes Maß erreicht hat. Beide Elemente des Begriffes müssen jeweils mit Tatsachen belegt werden können. Ob die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, ist letztlich im Rahmen einer Gesamtabwägung unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zu bestimmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es sich bei § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG um eine Ausnahmeregelung handelt, die deshalb restriktiv anzuwenden ist. Zu prüfen ist, ob die von dem Ausländer ausgehende Gefahr, sollte sie sich verwirklichen, so schwerwiegend und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts so hoch ist, dass deshalb das nationale Interesse höher zu bewerten ist, als der Abschiebungsschutz für einen politisch Verfolgten,
73Zeitler, HTK-AuslR, § 60 AufenthG, Abs. 8 Satz 1 (Stand: 06.05.2019) Rn. 14; Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Juli 2011) Rn. 226.
74Dabei ist höchstrichterlich insbesondere geklärt, dass die Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 Fall 1 AufenthG zulässig ist, namentlich ein Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist, wenn er fest entschlossen ist, in Deutschland einen terroristischen Anschlag zu verüben,
75BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 – 1 VR 2/17 –, juris.
76In Anwendung dieser Maßstäbe ist der Antragsteller aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen.
77Denn aus einer Gesamtschau der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse der deutschen Sicherheitsbehörden, die ihrerseits teilweise auch auf den Erkenntnissen ausländischer Sicherheitsbehörden beruhen, ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller im Bundesgebiet Mitglied einer Gruppe ist, die die Begehung von Terroranschlägen im Bundesgebiet beabsichtigte und die Ziele der Terrororganisation „Islamischer Staat“ bzw. von dessen Ableger „Islamischer Staat – Provinz Khorasan“ (nachfolgend „IS“) aktiv unterstützte. Es besteht im Weiteren eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller jedenfalls die Absicht der Begehung von Terroranschlägen im Bundesgebiet individuell unterstützte.
78Den vorliegenden Erkenntnissen ist der Antragsteller bislang insgesamt, soweit ersichtlich, inhaltlich an keiner Stelle entgegengetreten. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof hat auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse u.a. einen hinreichenden Tatverdacht nach §§ 129a und 129b des Strafgesetzbuches (StGB) bejaht und am 28. März 2024 u.a. gegen den Antragsteller Anklage vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts E. erhoben. Mit Beschluss des Oberlandesgerichts E. vom 25. Juni 2024 – III-6 St 2/24 – wurde die Anklage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet, mithin ebenfalls ein hinreichender Tatverdacht bejaht (§ 203 der Strafprozessordnung). Zuvor hatte auch schon der Bundesgerichtshof (BGH) auf Grund der seinerzeit vorliegenden Erkenntnisse wegen des Verdachts von Straftaten nach §§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 1 und 129b Abs. 1 Satz 1 und 2 StGB (Gründung einer und mitgliedschaftliche Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a Abs. 1 Nr. 1 StGB sowie Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland) sogar einen dringenden Tatverdacht – mithin eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller Straftaten nach §§ 129a und 129b StGB begangen hat – bejaht und mit Haftbefehl vom 29. Juni 2023 – 2 BGs 945/23 – Untersuchungshaft u.a. gegen den Antragsteller angeordnet, deren Fortdauer anschließend beschlossen wurde.
79Zu den Erkenntnissen im Einzelnen:
80Dass es sich bei dem „IS“ um eine terroristische bzw. den Terrorismus unterstützende Vereinigung handelt, ist in der Rechtsprechung hinreichend geklärt,
81vgl. nur BGH, Beschluss vom 19. Juni 2024 – AK 52/24 –; BVerwG, Beschluss vom 21. März 2017 – 1 VR 1/17 –, jeweils juris,
82und bedarf aus Sicht der Kammer keiner weiteren Erörterung.
83Nach den vorliegenden Erkenntnissen stand der Antragsteller im Bundesgebiet in Kontakt zu mehreren Personen, die dem islamistischen bzw. dschihadistischen Spektrum zuzuordnen sind und gegen die gemeinsam mit dem Antragsteller am 28. März 2024 Anklage durch den Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts E. erhoben wurde u.a. wegen Gründung und mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer Vereinigung, deren Zwecke und deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Mord und Totschlag zu begehen (§ 129a StGB) sowie Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland – „IS“ – (§ 129b StGB).
84Nach den vorliegenden Erkenntnissen sollen der Antragsteller und die weiteren Personen im Februar und März 2022 in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang und teilweise gemeinsam von der Ukraine über Polen in das Bundesgebiet eingereist sein. Mitunter sollen der Antragsteller und die weiteren Personen bereits in der Ukraine in Kontakt zueinander gestanden haben.
85Im Bundesgebiet sollen sich der Antragsteller und die weiteren Personen sodann nach den vorliegenden Erkenntnissen zu einer konspirativ agierenden, salafistisch bzw. dschihadistisch ausgerichteten Gruppe zusammengeschlossen haben, die Vorbereitungen für einen terroristischen Anschlag im Bundesgebiet traf und teilweise Geld für im Ausland, insbesondere in Lagern in Syrien aufhältige Angehörige des „IS“ sammelte und dorthin transferierte,
86vgl. dazu insgesamt BGH, Haftbefehl vom 29. Juni 2023 – 2 BGs 945/23 – und Beschluss vom 24. Januar 2024 – 2 BJs 55/23-4 –.
87Hinsichtlich der Gruppenstruktur und der Ausrichtung der Gruppe sind hierbei zunächst der Mitangeklagte B. B1. und der in den Niederlanden lebende B2. B3. hervorzuheben, mit denen der Antragsteller über einen längeren Zeitraum und teilweise auch schon in der Ukraine persönlich in Kontakt gestanden haben soll.
88B2. B3. soll nach den vorliegenden Erkenntnissen innerhalb der Gruppe, der der Antragsteller angehörte, eine Führungsrolle bei der Planung von terroristischen Anschlägen im Namen des „IS“ in Europa bzw. im Bundesgebiet eingenommen haben. Bereits im September 2020 soll B2. B3. in die Vorbereitung eines terroristischen Anschlages aus Anlass des jüdischen Neujahrsfestes in der ukrainischen Stadt Uman involviert gewesen sein, nachdem er 2017 wegen Zugehörigkeit zum „IS“ aus der Türkei in die Ukraine ausgeliefert worden sein soll. Insbesondere soll B2. B3. , der intensiven Kontakt zu Verantwortlichen des „IS“ gepflegt haben soll, über Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoffen bzw. zur Brandlegung verfügt haben. Er soll auch über Anleitungen zur Durchführung von „Aktionen“ (in Kleingruppen, teilweise vermummt) verfügt haben, womit nach dem Inhalt der entsprechenden Dokumente das Herbeiführen wirtschaftlicher Schäden, physischer Verletzungen bzw. Gewalttaten sowie die „Solidarität mit dem Kampf der Kameraden“ verstanden werden, mithin offenbar terroristische Anschläge gemeint sind,
89vgl. Bundeskriminalamt (BKA), Vermerk vom 5. Februar 2024 (KK H1. ).
90B2. B3. hat nach den nachrichtendienstlichen Erkenntnissen eine eindeutig dschihadistische Einstellung, bekennt sich zum „IS“ und bejaht die Anwendung von Gewalt gegen „Ungläubige“ sowie die eigene Teilnahme daran. Anfang Januar 2023 soll B2. B3. zudem Interesse an kleinen automatischen Waffen für drei „deutsche Brüder“ geäußert haben, die diese bei einer Tat „für Allah“ einsetzen wollten. Nach den nachrichtendienstlichen Erkenntnissen soll es sich bei diesen „deutschen Brüdern“ um den Antragsteller, B. B1. sowie den weiteren Mitangeklagten T. O. gehandelt haben.
91Auch B. B1. soll nach den vorliegenden Erkenntnissen innerhalb der Gruppe, der der Antragsteller angehört haben soll, eine hervorgehobene Stellung zugekommen sein. So soll B. B1. an B2. B3. Ende Juni 2022 per Messenger geschrieben haben:
92„Wann führen wir hier einen Anschlag durch?“
93B. B1. soll sich bei B2. B3. ferner erkundigt haben, ob dieser einen terroristischen Anschlag im Namen des „IS“ organisieren könne; B2. B3. soll B. B1. gebeten haben, abzuwarten,
94vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz, Behördenzeugnis vom 2. Februar 2023.
95Am 10. März 2023 soll B. B1. sich bei einem weiteren Mitangeklagten (O1. L. ), der sich zu diesem Zeitpunkt nachweislich in einer Moschee in I. , die dem islamistischen Spektrum zuzuordnen ist, aufhielt, erkundigt haben:
96„Und hast du unsere Flagge gesehen oder nicht?“
97Und weiter:
98„Unsere wundervolle Flagge. Hast du sie gesehen?“
99Hiermit soll nach den vorliegenden Erkenntnissen im konkreten Kontext offenbar die schwarze Flagge des „IS“ gemeint gewesen sein, zumal B. B1. und O1. L. unterschiedliche Staatsangehörigkeiten haben,
100vgl. BKA, Sachstandsbericht vom 12. Juni 2023 (EKHKin N. ) und Vermerk vom 13. März 2023 (KK T1. ).
101Am 24. März 2023 soll B. B1. einem weiteren Mitangeklagten (T2. T3. ) kommentarlos zwei Fotos eines augenscheinlich identischen und geöffneten Koffers gesandt haben. Eines der Fotos zeigt den Koffer halb leer, lediglich mit Kleidungsstücken befüllt. Auf dem anderen Foto befinden sich innerhalb des Koffers zusätzlich zahlreiche, übereinander gestapelte Plastikflaschen, welche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt sind,
102vgl. Erste Kriminalhauptkommissarin N. , Sachstandsbericht vom 12. Juni 2023; vgl. auch BGH, Haftbefehl vom 29. Juni 2023 – 2 BGs 945/23 – und Beschluss vom 24. Januar 2024 – 2 BJs 55/23-4 –.
103Insoweit liegt im Kontext mit den nach den vorliegenden Erkenntnissen offenbaren Anschlagsabsichten der Gruppe die Vermutung nahe, dass die Gruppe, der der Antragsteller angehört haben soll, konkret auch den Bau von „Kofferbomben“ vorbereitete.
104Die vorgenannten Erkenntnisse sprechen zunächst in ganz erheblichem Maße dafür, dass der Antragsteller zum einen Teil einer Gruppe war, die die Verübung terroristischer Anschläge im Bundesgebiet im Sinne der islamistischen bzw. dschihadistischen Ideologie des „IS“ beabsichtigte. Zum anderen sprechen die Erkenntnisse dafür, dass der Antragsteller unmittelbar in die Anschlagspläne der Gruppe eingebunden war. Insbesondere sollten in der Vergangenheit offenbar automatische Schusswaffen besorgt werden, die u.a. von dem Antragsteller für eine offenbar dschihadistische Tat eingesetzt werden sollten.
105Deutlich wird die islamistische Ausrichtung der Gruppe auch in Anbetracht des Umstandes, dass nach den vorliegenden Erkenntnissen im Frühjahr 2023 innerhalb der Gruppe ein sogenanntes Schariagericht einberufen worden sein soll, um einen privaten Konflikt zwischen B2. B3. und dem Antragsteller zu lösen. Als Bestrafungsform soll dabei erwogen worden sein, den Antragsteller zu verprügeln und zum Invaliden zu machen. Hierzu kam es nach den vorliegenden Erkenntnissen schließlich infolge einer Entschuldigung des Antragstellers gegenüber B2. B3. nicht,
106vgl. Erste Kriminalhauptkommissarin N. , Sachstandsbericht vom 12. Juni 2023.
107Gleichwohl spricht auch dieser Vorgang in ganz erheblichem Maße für ein geschlossen islamistisches Weltbild insbesondere des Antragstellers selbst und auch der weiteren Gruppenmitglieder. Denn der Vorgang offenbart, dass der Antragsteller und die weiteren Gruppenmitglieder die „Scharia“, also das islamische Gesetz im Sinne einer islamistischen Ideologie über das staatliche Recht und das staatliche Gewaltmonopol stellen.
108Nach den gewonnenen Erkenntnissen spricht im Weiteren ganz Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller die Ziele der Gruppe als terroristische Vereinigung – insbesondere die Verübung von terroristischen Anschlägen im Bundesgebiet – individuell unterstützt hat, wobei insoweit auf die zu § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG geltenden Maßstäbe zurückgegriffen wird.
109Die individuelle Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erfasst alle Verhaltensweisen, die sich in irgendeiner Weise positiv auf die Aktionsmöglichkeit der Vereinigung auswirken. Darunter kann die Mitgliedschaft in der terroristischen oder unterstützenden Vereinigung ebenso zu verstehen sein wie eine Tätigkeit für eine solche Vereinigung ohne gleichzeitige Mitgliedschaft. Auch die bloße Teilnahme an Demonstrationen oder anderen Veranstaltungen kann eine Unterstützung in diesem Sinne darstellen, wenn sie geeignet ist, eine positive Außenwirkung im Hinblick auf die durch § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG missbilligten Ziele zu entfalten. Auf einen nachweisbaren oder messbaren Nutzen für diese Ziele kommt es nicht an, ebenso wenig auf die subjektive Vorwerfbarkeit der Unterstützungshandlungen. Im Hinblick auf den Schutz der Meinungsfreiheit und das Gebot der Verhältnismäßigkeit staatlicher Eingriffe in die grundrechtlich geschützte Betätigungsfreiheit des Einzelnen erfüllen allerdings solche Handlungen den Tatbestand der individuellen Unterstützung nicht, die erkennbar nur auf einzelne, mit terroristischen Zielen und Mitteln nicht im Zusammenhang stehende – etwa humanitäre oder politische – Ziele der Vereinigung gerichtet sind,
110vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 3/16 –, juris.
111Weiterhin gilt aber für die Fälle des Unterstützens einer terroristischen Vereinigung ein abgesenkter Gefahrenmaßstab, der auch die Vorfeldunterstützung des Terrorismus erfasst und keine von der Person ausgehende konkrete und gegenwärtige Gefahr erfordert. Der Unterstützerbegriff ist weit auszulegen und anzuwenden, um damit auch der völkerrechtlich begründeten Zwecksetzung des Gesetzes gerecht zu werden, dem Terrorismus schon im Vorfeld die logistische Basis zu entziehen. Maßgeblich ist, inwieweit das festgestellte Verhalten des Einzelnen zu den latenten Gefahren der Vorfeldunterstützung des Terrorismus nicht nur ganz unwesentlich oder geringfügig beiträgt und deshalb selbst potenziell als gefährlich erscheint.
112vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 1 C 28/16 – juris.
113In subjektiver Hinsicht muss für den Ausländer die eine Unterstützung der Vereinigung, ihrer Bestrebungen oder ihrer Tätigkeit bezweckende Zielrichtung seines Handelns erkennbar und ihm deshalb zurechenbar sein. Auf eine darüber hinausgehende innere Einstellung kommt es nicht an,
114vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Juli 2017 – 1 C 28/16 –, juris.
115Auf Grundlage der weiteren vorliegenden Erkenntnisse zu den konkreten Unterstützungshandlungen und zum spezifischen islamistischen bzw. dschihadistischen Hintergrund des Antragstellers spricht ganz Überwiegendes für eine individuelle Unterstützung durch den Antragsteller in diesem Sinne.
116Danach soll der Antragsteller im Bundesgebiet zentraler Ansprechpartner innerhalb der Gruppe bzw. für Unterstützer des „IS“ wegen der Beschaffung gefälschter Ausweispapiere gewesen sein, die ebenfalls der Förderung der Ziele der Gruppe – insbesondere die Möglichkeit zum grenzüberschreitenden Verkehr, auch im Zusammenhang mit der Planung und Verübung von terroristischen Anschlägen – dienten,
117vgl. Bundesnachrichtendienst, Behördenerklärung zu den Personen S. T3. , T. L1. und B. L2. vom 10. Juli 2023; Federal Bureau of Investigation, Behördenerklärung vom 5. Juli 2023.
118Im Juli 2022 soll der Antragsteller dem Mitangeklagten T. O. Bilddateien betreffend die J. S. -H2. Moschee in C1. gesandt haben. Die Bilddateien betrafen unter anderem eine „Pride“-Flagge, die an der J. S. -H2. Moschee gehisst wurde. Diese Moscheegemeinde vertritt einen liberalen Islam und wird deswegen in Medien des „IS“ im Zusammenhang mit Aufrufen zu Terroranschlägen in Europa als „Ort der Teufelsanbetung“ bezeichnet. Vor dem Hintergrund der islamistischen bzw. dschihadistischen Ausrichtung der Gruppe sowie der offenbar bestehenden Anschlagsabsichten innerhalb der Gruppe liegt es nahe, dass der Antragsteller seinerzeit mit den weiteren Gruppenmitgliedern diesen Ort konkret als Anschlagsort ins Auge fasste,
119vgl. BKA, Vermerk vom 20. April 2023 (KOKin C. ).
120Des Weiteren soll der Antragsteller nach den vorliegenden Erkenntnissen als wesentlicher Organisator eines Treffens am 8. Januar 2023 in H3. aufgetreten sein. An diesem – nach dem äußeren Erscheinungsbild konspirativ durchgeführten – Treffen nahmen neben dem Antragsteller weitere Mitglieder der Gruppe, aber auch unbekannte Personen – mutmaßlich aus dem Ausland – teil. Im Zuge des Treffens wurden Plastiktüten – mit unbekanntem Inhalt – aus der oben bereits erwähnten Moschee in I. geholt und von den unbekannten Personen an den Antragsteller und die übrigen Gruppenmitglieder übergeben. Bekannt ist, dass die Moschee in I. bzw. ein dort aktiver Prediger (B4. Z. ) wiederum dem islamistischen Spektrum zuzuordnen sind; B4. Z. wurde durch das Oberlandesgericht E. am 5. Februar 2021 wegen Unterstützung der ausländischen terroristischen Vereinigung „Islamische Bewegung Usbekistan“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Im weiteren Verlauf des Treffens am 8. Januar 2023 soll der Antragsteller offenbar auch die Abreise der unbekannten Personen per Flugzeug organisiert haben,
121vgl. den Haftbehelfsantrag des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof vom 28. Juni 2023 (Az. 2 BJs 55/23-4) und BGH, Haftbefehl vom 29. Juni 2023 – 2 BGs 945/23 –; Bundesamt für Verfassungsschutz, Behördenzeugnis vom 31. Januar 2023; Erste Kriminalhauptkommissarin N. , Sachstandsbericht vom 12. Juni 2023.
122Auch diese Erkenntnisse begründen die Annahme, dass der Antragsteller innerhalb der Gruppe nicht eine bloß untergeordnete Rolle einnahm, sondern maßgeblich an den auf die Verübung eines terroristischen Anschlages im Bundesgebiet gerichteten Aktivitäten der Gruppe beteiligt war.
123Nach den vorliegenden Erkenntnissen soll der Antragsteller auch in Kontakt gestanden haben zu einem in Frankreich festgenommenen Terrorverdächtigten, L3. O2. ,
124vgl. BKA, Vermerk vom 8. Januar 2024 (KHKin X. ).
125sowie zu einem in Österreich festgenommenen Terrorverdächtigten, N1. B5. ,
126vgl. die Anklageschrift des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof vom 27. März 2024 (Az. 2 BJs 55/23-4).
127Im Zuge der Verhaftung des Antragstellers wurden auf dem Mobiltelefon des Antragstellers zudem verschiedene Medien festgestellt, die eine islamistische bzw. dschihadistische Grundhaltung des Antragstellers nahelegen. So wurde etwa ein Video festgestellt zur Bedeutung des Dschihad, also des militärischen Kampfes gegen „Ungläubige“. Auf dem Mobiltelefon befanden sich außerdem weitere Videos mit salafistischen Inhalten und Fotos von Schusswaffen. Festgestellt wurde weiter ein LGBTQ-feindliches Video. Auf dem Mobiltelefon befanden sich außerdem auch Medien mit expliziten Gewaltinhalten, u.a. ein Video einer bäuchlings am Boden liegenden, mutmaßlich erschossenen Person,
128vgl. Vermerk vom 5. Februar 2024 (KK C2. ).
129Auch die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse zur Biografie des Antragstellers vor dessen Einreise ins Bundesgebiet sprechen ganz erheblich für eine gefestigte islamistische bzw. dschihadistische Grundhaltung des Antragstellers und eine Zugehörigkeit zum „IS“ sowie die Bereitschaft des Antragstellers, im Bundesgebiet terroristische Anschläge zu verüben.
130Denn nach diesen Erkenntnissen soll sich der Antragsteller zwischen 2013 und 2016 in Syrien aufgehalten haben. Dort soll sich der Antragsteller dem „IS“ angeschlossen haben und dort Teil des „Sicherheitsapparates“ des „IS“ gewesen sein. In diesem Zusammenhang soll der Antragsteller mindestens fünf Hinrichtungen eigenständig durchgeführt haben,
131vgl. Bundesnachrichtendienst, Behördenerklärung zu B6. L2. vom 3. Juli 2023,
132was für ein ganz erhebliches islamistisch bzw. dschihadistisch begründetes Gewaltpotential bei dem Antragsteller spricht.
133Ende 2016 soll der Antragsteller nach Festnahme im türkisch-syrischen Grenzgebiet durch türkische Sicherheitsbehörden wegen Beteiligung am „IS“ aus der Türkei in die Ukraine abgeschoben worden sein, wo er zunächst festgenommen und in ein Zentrum für die vorübergehende Unterbringung von Ausländern und Staatenlosen untergebracht wurde. Dort soll der Antragsteller als radikaler islamischer Prediger aufgetreten sein, indem er die Ideen des „Wahhabismus“ – eine streng konservative Lesart und Strömung des sunnitischen Islams – und die Notwendigkeit des Dschihads propagierte. Der Verdacht der Gefahr einer besonderen Gewaltneigung des Antragstellers folgt auch daraus, dass gegen ihn in der Ukraine außerdem ein Strafverfahren geführt wird im Zusammenhang mit einem bewaffneten Raubüberfall. Bei dieser Tat soll der Antragsteller dem Tatopfer u.a. mit einem Holzschläger auf den Kopf geschlagen haben, was zum Tode des Tatopfers führte,
134vgl. Sicherheitsdienst der Ukraine, Schreiben vom 24. Oktober 2023.
135Es ergibt sich auf Grundlage der vorgenannten Erkenntnisse insgesamt ein Bild, nach dem der Antragsteller bereits bei seiner Einreise in das Bundesgebiet mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gefestigte islamistische bzw. dschihadistische Überzeugung besaß und auf Grund dieser Überzeugung im Bundesgebiet gemeinsam mit der Gruppe, der er sich anschloss, terroristische Anschläge im Sinne der islamistischen bzw. dschihadistischen Ideologie des „IS“ beabsichtigte. Dieser konkrete Verdacht wird bestätigt insbesondere durch die entsprechende Bejahung eines dringenden Tatverdachts im Rahmen der Anordnung der Untersuchungshaft und deren Fortdauer durch den BGH sowie die nunmehr erfolgte entsprechende Zulassung der Anklage und Eröffnung des Hauptverfahrens durch das Oberlandesgericht E. . Es liegt auf der Hand, dass derartige Vorbereitungs- und Unterstützungshandlungen in ganz erheblichem Maße die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und der hier lebenden Bevölkerung gefährden i.S.d. § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG. Denn die islamistische bzw. dschihadistische Ideologie des „IS“ hat gerade zum Ziel, durch terroristische Anschläge auf Leib und Leben von Menschen und staatliche Einrichtungen bzw. Infrastruktur allgemeine Unsicherheit zu verbreiten und anstelle von Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland ein „Kalifat“ zu errichten.
136Liegen danach die Voraussetzungen des § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG vor, so stehen dem Erlass der Abschiebungsandrohung auch weder Abschiebungsverbote noch das Kindeswohl oder familiäre Bindungen entgegen (§ 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG).
137Kindeswohlbelange oder familiäre Bindungen, die einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen, sind nicht ersichtlich. Der Antragsteller selbst hat sich auf solche Belange nicht berufen. Gegen das Vorliegen solcher Belange spricht auch, dass davon auszugehen ist, dass sich die Lebensgefährtin des Antragstellers (H4. U. ) und die beiden gemeinsamen Kinder (N. U. und ein weiteres namentlich nicht benanntes Kind, das am 13. Juli 2023 in der Ukraine zur Welt gekommen sein soll) in der Ukraine aufhalten. Dies hat der Antragsteller ausweislich eines Schreibens der Justizvollzugsanstalt E1. vom 24. Mai 2024 dort angegeben. Bereits bei seiner Festnahme hat der Antragsteller angegeben, dass er seine Ehefrau und Tochter „in Sicherheit gebracht“ habe. Dies steht auch in Einklang mit den Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden, wonach sich die Lebensgefährtin des Antragstellers und die beiden gemeinsamen Kinder nicht mehr im Bundesgebiet, sondern wieder in der Ukraine befinden.
138Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 oder 5 AufenthG – diese Vorschriften finden nach § 60 Abs. 9 Satz 2 AufenthG auch im Falle der Abschiebungsandrohung nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG Anwendung – besteht nicht.
139Das Gericht ist dabei an die Feststellung des BAMF in dem Bescheid vom 3. Januar 2023, wonach Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AsylG nicht vorliegen, im vorliegenden Verfahren nicht gebunden. Dem steht nicht entgegen, dass nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AsylG eine Bindungswirkung für die Ausländerbehörde besteht hinsichtlich der Entscheidung des BAMF über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG und es für diese Bindungswirkung grundsätzlich nicht auf die Bestands- oder Rechtskraft der Entscheidung ankommt,
140dazu Diesterhöft, in: HTK-AuslR, § 42 AsylG (Stand: 16.01.2023) Rn. 8 ff.
141Denn Voraussetzung der Bindungswirkung nach § 42 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist im Falle einer noch nicht bestandskräftigen Entscheidung weiterhin, dass diese sofort vollziehbar ist und damit selbst im Falle ihrer Anfechtung jedenfalls vorläufig als verbindlich gilt,
142VGH B-W, Beschluss vom 30. August 2023 – 12 S 1394/23 –, juris.
143Dies ist hier jedoch, wie oben bereits dargestellt, nicht der Fall, weil die asylgerichtliche Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des BAMF vom 3. Januar 2023 insgesamt aufschiebende Wirkung nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG hat.
144Auch im Übrigen obliegt die Prüfung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG gemäß § 60 Abs. 9 Satz 2 AufenthG der Ausländerbehörde und nicht dem BAMF. Dies gilt namentlich auch für die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote. Sofern in der Literatur wiederum teilweise die Auffassung vertreten wird, dass die Prüfung auch insoweit dem BAMF obliege,
145Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 60 AufenthG (Stand: 1. März 2020) Rn. 16,
146vermag auch dies nicht zu überzeugen. Denn auch insoweit gilt, dass im zeitlichen Anwendungsbereich des § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG eine (Zwischen-)Entscheidung des BAMF über das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG weder nach dem AsylG noch nach dem AufenthG vorgesehen ist,
147wie hier wohl auch Treiber, in: Berlit, GK-AufenthG, § 60 (Stand: Januar 2012) Rn. 290.
148Auf eine etwaig unterbliebene Beteiligung des BAMF nach § 72 Abs. 2 AufenthG kommt es, wie schon oben dargelegt, im vorliegenden Verfahren nicht an, da sich der Antragsteller hierauf nicht zu seinem Schutz berufen kann.
149Sind danach im vorliegenden Verfahren auch zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG zu prüfen, so liegen solche im Falle des Antragstellers nicht vor.
150Namentlich besteht ein einzig in Betracht kommendes Abschiebungsverbot wegen drohender Folter im Herkunftsland des Antragstellers – L4. – nicht.
151Nach § 60 Abs. 2 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem ihm der in § 4 Abs. 1 AsylG bezeichnete ernsthafte Schaden droht. Nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG gilt als ernsthafter Schaden Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Diese Vorschrift knüpft unmittelbar an Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) an, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
152Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer außerdem nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Insoweit regelt Art. 3 EMRK – gleichlautend zu Art. 4 GRCh –, dass niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden darf.
153Ein drohender ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG erfordert stets eine erhebliche individuelle Gefahrendichte. Diese kann nur angenommen werden, wenn dem Schutzsuchenden ein ernsthafter Schaden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit („real risk“) droht,
154VGH B-W, Urteil vom 24. April 2024 – A 13 S 1931/23 –, juris.
155Die bloß theoretische Möglichkeit eines Schadens reicht nicht aus,
156vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris
157Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab korreliert mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art 3 EMRK, wonach stichhaltige Gründe für die Annahme dargelegt werden müssen, dass die betreffende Person im Zielland der tatsächlichen Gefahr einer Behandlung ausgesetzt wäre, die gegen Art. 3 EMRK verstößt,
158EGMR, Urteil vom 29. April 2022 – 28492/15, 49975/15 –, juris („where substantial grounds have been shown for believing that the person in question would face a real risk of being subjected to treatment contrary to Article 3 in the destination country“).
159Die Kammer gelangt nach umfassender Auswertung der hierzu vorliegenden Erkenntnisse nicht zu dem Ergebnis, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr nach L4. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter droht.
160Speziell für die Situation von V. in L4. – der Antragsteller gehört nach eigenen Angaben im Asylverfahren der Volksgruppe der V. an – hat der EGMR zuletzt ausdrücklich festgestellt, dass im Falle einer Auslieferung solcher Personen nach L4. kein Verstoß gegen Art. 3 EMRK bzw. kein „real risk“ eines solchen Verstoßes droht,
161EGMR, Urteil vom 29. April 2022 – 28492/1, 49975/15 –, juris.
162Die Kammer hat keine hiervon abweichenden Erkenntnisse erlangt, die eine andere Beurteilung der grundsätzlichen Situation von V. in L4. mit Blick auf eine „beachtliche Wahrscheinlichkeit“ von Folter erforderlich macht.
163Eine solche beachtliche Wahrscheinlichkeit wird im Weiteren auch nicht dadurch begründet, dass der Antragsteller im Falle der Rückkehr nach L4. aufgrund des konkreten Verdachts seiner Zugehörigkeit zum „IS“ bzw. seiner islamistischen Grundhaltung absehbar auch ins Visier der l. Sicherheitsbehörden geraten wird.
164Die Kammer geht hierbei nicht zuletzt aufgrund der im hiesigen Verfahren am 17. Mai 2024 und am 31. Juli 2024 durch das Auswärtige Amt übermittelten Informationen davon aus, dass den kirgisischen Sicherheitsbehörden der Umstand, dass gegen den Antragsteller zwischenzeitlich Anklage durch den Generalbundesanwalt u.a. wegen Gründung einer terroristischen Vereinigung erhoben wurde, bekannt ist.
165Auch ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Antragsteller (auch) aus diesem Grunde bei seiner Rückkehr nach L4. einer eingehenden Befragung durch die l. Sicherheitsbehörden unterzogen werden wird. Denn insoweit bestehen Erkenntnisse, dass Rückkehrer – und im Besonderen junge Männer wie der Antragsteller – insbesondere im Zusammenhang mit der Besorgnis des l. Staates über die Teilnahme l. Bürger an den Kämpfen in Syrien von Polizei und Geheimdiensten bei ihrer Ankunft in Arrest genommen und „auf unbestimmte Zeit befragt“ werden,
166Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. L4. , Stand: 23.12.2021, S. 39.
167Dass es bei diesen Befragungen regelmäßig bzw. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch zu Folter käme, ist indes an keiner Stelle dokumentiert.
168Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es nach den Berichten verschiedener Menschenrechtsorganisationen während Inhaftierungen und Befragungen durch l. Sicherheitsbehörden mitunter zu Folterhandlungen kommt,
169vgl. etwa Freedom House, Freedom in the world 2024, Kyrgyzstan, S. 16; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu L4. : Informationen zur Menschenrechtslage (insbesondere Lage von Frauen und Mädchen, Kindern und armutsgefährdenden Personen), 10. August 2023, S. 2; Amnesty International Report. L4. 2022, S. 4; BFA, a.a.O., S. 16 f.
170Dies ergibt sich auch aus der gerichtlich eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 31. Juli 2024.
171Demgegenüber ist jedoch auch zu konstatieren, dass Folter nach der l. Verfassung ebenso verboten ist wie andere „grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe“. Der l. Staat hat jedenfalls auch die UN-Antifolterkonvention und das zugehörige Fakultativprotokoll ratifiziert und darüber hinaus Maßnahmen ergriffen, um gegen Folter vorzugehen, etwa die Gründung eines „nationalen Präventionsmechanismus“ zur Bekämpfung von Folter sowie die Einrichtung eines „nationalen Zentrums für die Prävention von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“, das in der Lage ist, im Einzelnen bekannt gewordene Fälle von Folter an die zuständigen Ermittlungsbehörden weiterzuleiten,
172BFA, a.a.O., S. 16; BAMF, Länderreport 38. L4. . Kontextinformationen und Menschenrechtslage, Stand: 06/2021, S. 24.
173Auch aus der gerichtlich eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 31. Juli 2024 ergibt sich, dass „in L4. inzwischen ein Anti-Folter-Komitee landesweit ein gutes Monitoring durch[führt]. Dieses Komitee, dem auch Angehörige der Zivilgesellschaft und Abgeordnete angehören, hat jederzeit Zugang zu Haftanstalten (auch zu Häftlingen in Untersuchungshaft). Dies führte in den letzten Jahren zu einer deutlichen Verbesserung der Vernehmungs- und Haftbedingungen“.
174Dafür, dass demgegenüber Folter in L4. regelmäßig und systematisch angewandt würde, ist nichts ersichtlich. Hiervon kann auch nicht im Zusammenhang mit der Bekämpfung von islamistischem Terrorismus durch den l. Staat ausgegangen werden. Soweit nach einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) Berichte über Folter im Zusammenhang mit der Inhaftierung und Befragung von Personen, die seitens des l. Staates des Besitzes von extremistischem Material verdächtigt wurden, vorliegen,
175HRW, „We Live in Constant Fear“. Possession of Extremist Material in Kyrgyzstan, September 2018,
176stehen diese Berichte unmittelbar im Zusammenhang mit Art. 299-2 des l. Strafgesetzes. Danach ist u.a. der Besitz von Medien mit extremistischem Inhalt verboten. In diesem Zusammenhang soll es nach dem vorgenannten Bericht in einzelnen Fällen zu willkürlichen Verhaftungen sowie Folter und insbesondere auch zur Annahme von Bestechungsgeldern durch Polizeibeamte gekommen sein. Anhaltspunkte für eine systematische Folter von Verdächtigen liegen jedoch auch insoweit nicht vor. Zudem stehen die Berichte vornehmlich im Zusammenhang mit Maßnahmen l. Sicherheitsbehörden, die sich gegen die islamistische Bewegung „Hizb ut-Tahrir“ richteten, die u.a. auch in L4. aktiv ist und gegen die der l. Staat verstärkt vorgeht,
177vgl. auch HRW, a.a.O., S. 33 („largest category of article 299-2 prosecutions by group were for possessions of Hizb ut-Tahrir material“).
178Dieser Bewegung ist der Antragsteller indes nicht zuzuordnen. Auch im Übrigen kann aus den vorgenannten Berichten nicht ohne Weiteres gefolgert werden, dass der Antragsteller aufgrund seiner Zugehörigkeit zum „IS“ mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ Folter durch l. Sicherheitsbehörden ausgesetzt sein wird. Denn aus den Berichten folgt mitnichten, dass Folter durch l. Sicherheitsbehörden regelmäßig oder gar systematisch bzw. gezielt gegen Personen mit Zugehörigkeit zum „IS“ angewandt würde.
179Es liegen dem Gericht auch im Übrigen keine Erkenntnisse darüber vor, dass Personen wie der Antragsteller, die wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zum „IS“ in Erscheinung getreten sind, mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ Opfer von Folterhandlungen l. Sicherheitsdienste werden. Es bestehen insbesondere keine Anhaltspunkte dafür, dass die Gefahr von Folter für diese Personengruppe gegenüber der allgemeinen Situation in L4. , die der vorgenannten Entscheidung des EGMR zugrunde lag und in der es – vereinzelt – weiterhin zu Folter durch l. Sicherheitsbehörden kommt, höher bzw. individuell verdichtet wäre. Auch dem Auswärtigen Amt liegen ausweislich der gerichtlich eingeholten Auskunft vom 31. Juli 2024 keine Erkenntnisse dazu vor, dass Ausländer, gegen die in der Bundesrepublik Deutschland ein Strafverfahren mit Terrorismusbezug geführt wird oder wurde, im Rahmen von Befragungen und Inhaftierungen durch die l. Sicherheitsbehörden Folter ausgesetzt wären.
180Der Antragsteller selbst hat dafür, dass er mit „beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ bei einer Rückkehr nach L4. Folter durch l. Sicherheitsbehörden ausgesetzt wäre, zu keinem Zeitpunkt im vorliegenden Verfahren etwas geltend gemacht. Im Rahmen der Anhörung im Asylverfahren hatte er lediglich vorgebracht, in L4. eine Schlägerei mit dem Mann seiner Cousine gehabt zu haben. Er sei zu dem Mann gefahren und habe ihn, auch auf den Kopf, geschlagen und schwer verletzt. Der Mann sei dann bei der Polizei gewesen. Bevor die Polizei zu ihm nach Hause gekommen sei, habe er L4. verlassen. Es sei vielleicht möglich, Probleme mit der Polizei mit Geld zu lösen. Auch hieraus lässt sich für eine „beachtliche Wahrscheinlichkeit“ einer Folter nichts herleiten. Dass der Antragsteller in L4. ggf. auch wegen der von ihm berichteten Schlägerei im Blickfeld der l. Sicherheitsbehörden steht, erscheint in Anbetracht des vom Antragsteller selbst geschilderten Geschehens, wonach dieser den Mann der Cousine angegriffen und schwer verletzt haben soll, durchaus möglich, begründet aber gewiss nicht ohne Weiteres die Annahme einer „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ von Folter.
181Liegen danach Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 und 5 AufenthG nicht vor, so vermag ein Abschiebungsverbot auch nicht aus § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu folgen. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine solche erhebliche konkrete Gefahr wegen – hier einzig in Betracht zu ziehender – drohender Folter im Herkunftsland droht im Falle des Antragstellers nach den vorstehenden Ausführungen indes nicht. Soweit dem Antragsteller in L4. möglicherweise Strafverfolgung und Bestrafung drohen können und die konkrete Gefahr einer nach der l. Rechtsordnung gesetzmäßigen Bestrafung besteht, steht dies der Abschiebung nicht entgegen, § 60 Abs. 6 AufenthG.
182Es ist schließlich nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin mit Blick auf die vorgesehene Abschiebung aus der Haft keine Ausreisefrist festgesetzt hat, da es in Anbetracht dessen, dass sich der Antragsteller auf richterliche Anordnung in Haft befindet, gemäß § 59 Abs. 5 i.V.m. § 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG keiner Fristsetzung bedarf. Diese Regelung steht nach der Rechtsprechung des OVG NRW auch im Einklang mit der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungs-RL), jedenfalls soweit von dem Betroffenen eine gegenwärtige und erhebliche Gefahr ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt,
183vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Mai 2019 – 18 B 176/19 –,
184was vorliegend – wie vorstehend ausgeführt – der Fall ist.
185Schließlich hat die Antragsgegnerin auch das ihr nach § 60 Abs. 9 Satz 1 AufenthG zustehende Ermessen fehlerfrei ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO).
186Die Antragsgegnerin hat ausweislich der Begründung in der Ordnungsverfügung zunächst erkannt, dass sie insoweit Ermessen auszuüben hat. Die Ermessensausübung, die inhaltlich vornehmlich auf den Zweck der Abschiebungsandrohung, nämlich den „Schutz der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland“ abstellt, der gegenüber dem Interesse des Antragstellers an einem Verbleib im Bundesgebiet zur Durchführung des Asylverfahrens überwiege, ist auch inhaltlich nicht zu beanstanden. Insbesondere erweist sich die getroffene Entscheidung als verhältnismäßig. Das oben dargelegte öffentliche Interesse an einer zwangsweisen Beendigung des Aufenthaltes des Antragstellers vor bestandskräftigem Abschluss des Asylverfahrens wiegt in Anbetracht der oben dargelegten Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland schwer. Demgegenüber sind konkret drohende Gefahren für den Antragsteller im Falle einer Abschiebung nicht ersichtlich. Es bestehen auch im Übrigen, wie sich aus den obigen Darlegungen und den Ausführungen unter 4. ergibt, keinerlei Bleibeinteressen des Antragstellers, weswegen dessen Interesse, bis zum bestandskräftigen Abschluss des Asylverfahrens im Bundesgebiet verbleiben zu können, insgesamt als gering zu veranschlagen ist.
1874.
188Soweit sich der Antrag gegen das in Ziffer 4. der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung enthaltene und auf 20 Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot richtet, ist der nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG statthafte und auch im Übrigen zulässige Antrag unbegründet.
189Rechtsgrundlage für den Erlass des an die Ausweisung anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbotes ist § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach ist u.a. gegen einen Ausländer, der ausgewiesen worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot im Falle der Ausweisung gemeinsam mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen.
190Gegen den Erlass des allein an die Ausweisung des Antragstellers anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbotes bestehen in formeller Hinsicht keine Bedenken. Insbesondere ist der Antragsteller hierzu angehört worden, § 28 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen.
191Auch in materieller Hinsicht erweist sich der Erlass des Einreise- und Aufenthaltsverbotes als rechtmäßig.
192Die zugrundeliegende Ausweisung des Antragstellers ist rechtmäßig erfolgt.
193Diese beruht auf § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
194Auch insoweit bestehen in formeller Hinsicht keine Bedenken. Insbesondere wurde der Antragsteller auch zum Erlass der Ausweisung angehört.
195Auch der Ausweisung des Antragstellers steht nicht entgegen, dass dieser einen Asylantrag gestellt hat. Nach § 53 Abs. 4 AufenthG kann ein Ausländer, der einen Asylantrag gestellt hat, nur unter der Bedingung ausgewiesen werden, dass das Asylverfahren unanfechtbar ohne Anerkennung als Asylberechtigter oder ohne die Zuerkennung internationalen Schutzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG) abgeschlossen wird (Satz 1). Von der Bedingung wird u.a. abgesehen, wenn ein Sachverhalt vorliegt, der nach Absatz 3a eine Ausweisung rechtfertigt. Nach § 53 Abs. 3a AufenthG darf ein Ausländer, der als Asylberechtigter anerkannt ist, der im Bundesgebiet die Rechtsstellung eines ausländischen Flüchtlings im Sinne des § 3 Absatz 1 AsylG oder eines subsidiär Schutzberechtigten im Sinne des § 4 Absatz 1 AsylG genießt oder der einen von einer Behörde der Bundesrepublik Deutschland ausgestellten Reiseausweis nach dem Abkommen vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge besitzt, nur bei Vorliegen zwingender Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung ausgewiesen werden.
196Die Formulierung „zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung“ in § 53 Abs. 3a AsylG knüpft unmittelbar an die insoweit wortgleiche Regelung in Art. 24 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes an. Der Begriff der nationalen bzw. öffentlichen Sicherheit umfasst sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaates. Die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung können die öffentliche Sicherheit ebenso berühren wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen. Der Ausdruck „zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit“ setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist, der im Gebrauch des Ausdrucks „zwingende Gründe“ zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist weiterhin, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Hierunter fallen insbesondere auch die Fälle, in denen ein Drittstaatsangehöriger einer Vereinigung angehört, die den internationalen Terrorismus unterstützt, oder er eine derartige Vereinigung unterstützt. Insoweit ist eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung der spezifischen tatsächlichen Umstände vorzunehmen, die sich sowohl auf die Handlungen der betroffenen Vereinigung als auch auf die des betroffenen Drittstaatsangehörigen beziehen,
197Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 24. Juni 2015 – C-373/13 –, juris.
198Ausgehend hiervon liegen im Falle des Antragstellers zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung i.S.d. § 53 Abs. 3a AsylG vor.
199Denn es besteht nach den obigen Darlegungen auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller Mitglied einer Gruppe im Bundesgebiet ist, die insbesondere beabsichtigte, im Bundesgebiet Terroranschläge zu verüben und den islamistischen Terror des „IS“ unterstützt hat. Im Weiteren besteht nach den obigen Darlegungen eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller jedenfalls das Ziel der Gruppe, terroristische Anschläge im Bundesgebiet zu verüben, individuell unterstützt und hierdurch den internationalen Terrorismus unmittelbar durch eigene Handlung unterstützt hat. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen unter 3. Bezug genommen. Die damit einhergehenden Gefahren stellen einen zwingenden Grund der nationalen Sicherheit dar, der eine Ausweisung nach § 53 Abs. 3a AufenthG rechtfertigt.
200Der Antragsteller gefährdet auch die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG, weil er nach den vorstehenden Ausführungen unter 3. aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist.
201Hierdurch ist zugleich der Tatbestand des besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG verwirklicht. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat, es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand.
202§ 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG enthält hinsichtlich der Unterstützungshandlungen des Ausländers einen insbesondere gegenüber § 60 Abs. 9 i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 Fall 1 AufenthG abgesenkten Beweismaßstab („wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen“). Erforderlich ist insoweit, dass Tatsachen in der Gesamtschau eine große Wahrscheinlichkeit für die Unterstützung der Vereinigung durch den Ausländer begründen. Bloße Vermutungen oder Spekulationen genügen insoweit nicht; eine sichere Überzeugung ist indes auch nicht erforderlich. Hinsichtlich des Merkmals „Vereinigung, die den Terrorismus unterstützt“ und hinsichtlich der Indiztatsachen, die den Schluss auf die Unterstützung der Vereinigung rechtfertigen, gilt indes der normale Beweismaßstab der vollen gerichtlichen Überzeugung,
203vgl. OVG NRW, Beschluss vom 27. Mai 2015 – 18 B 312/14 – juris.
204Im Falle des Antragstellers ist dieses besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse infolge der Tatsachen, die für dessen Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Bundesgebiet und insbesondere Absicht der Verübung von Terroranschlägen im Bundesgebiet sprechen, erfüllt. Auch insoweit wird auf die obigen Ausführungen unter 3. Bezug genommen.
205Dafür, dass der Antragsteller zwischenzeitlich erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand genommen hätte (§ 54 Abs. 1 Nr. 2 a.E. AufenthG), ist weder etwas vorgetragen worden noch ersichtlich.
206Aus denselben Gründen erfüllt der Antragsteller auch das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2a AufenthG. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung im Sinne des § 129 StGB angehört oder angehört hat. Nach den vorstehenden Ausführungen unter 3. gefährdet der Antragsteller die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Es besteht außerdem auf Grund der vorliegenden Erkenntnisse eine große Wahrscheinlichkeit, dass er einer Vereinigung im Sinne des § 129 StGB angehört bzw. angehört hat. Insoweit wurde insbesondere auch seitens des Bundesgerichtshofes ein dringender Tatverdacht bejaht.
207Die nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem Bleibeinteresse des Antragstellers und dem öffentlichen Interesse an seiner Ausreise fällt zu Lasten des Antragstellers aus.
208Denn während, wie oben dargelegt, im Falle des Antragstellers besonders schwerwiegende Ausweisungsinteressen bestehen, sind Bleibeinteressen auf Seiten des Antragstellers nicht erkennbar. Der Antragsteller, der im Februar oder März 2022 ohne Aufenthaltserlaubnis in das Bundesgebiet eingereist ist und seither zu keinem Zeitpunkt einen Aufenthaltstitel besessen hat, erfüllt keines der in § 55 AufenthG genannten Bleibeinteressen. Auch ungeschriebene Bleibeinteressen liegen im Falle des Antragstellers ersichtlich nicht vor. Solche folgen namentlich – wie bereits unter 3. ausgeführt – nicht aus Art. 6 des Grundgesetzes (GG) bzw. mit Blick auf etwaige familiäre Bindungen des Antragstellers oder Kindeswohlbelange im Bundesgebiet. Dafür, dass im Falle des Antragstellers aus sonstigen Gründen ein Bleibeinteresse aus Art. 8 EMRK folgen könnte, ist nichts ersichtlich.
209Liegen danach die tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung nach § 53 Abs. 1 AufenthG vor, so ist auf Rechtsfolgenseite die Ausweisung vorzunehmen.
210Beruht das streitgegenständliche Einreise- und Aufenthaltsverbot damit auf einer rechtmäßigen Ausweisung, so erweist sich auch die zugehörige Befristungsentscheidung, für die die Antragsgegnerin als die Behörde, die die Ausweisung erlassen hat, zuständig ist (§ 11 Abs. 5c AufenthG), als rechtmäßig.
211Nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot bei seinem Erlass von Amts wegen zu befristen. Über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots wird nach Ermessen entschieden. Sie darf außer in den Fällen von § 11 Abs. 5 bis 5b AufenthG fünf Jahre nicht überschreiten. (§ 11 Abs. 3 AufenthG). Nach § 11 Abs. 5a Satz 1 AufenthG soll die Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots 20 Jahre betragen, wenn der Ausländer wegen eines Verbrechens gegen den Frieden, eines Kriegsverbrechens oder eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit oder zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ausgewiesen wurde.
212Mit der Ausgestaltung der Norm als „Soll-Vorschrift“ hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass im Regelfall eine Befristung auf 20 Jahre zu erfolgen hat. Die Anordnung einer Regelfrist von 20 Jahren ist danach obligatorisch, wenn nicht besondere, eine Abweichung vom Regelfall gebietende Umstände vorliegen. Lediglich bei Vorliegen atypischer Umstände ist die zuständige Behörde gehalten, eine Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der Umstände des konkreten Einzelfalles über die Länge des Einreise- und Aufenthaltsverbotes zu treffen,
213vgl. etwa Hailbronner, in: ders., Ausländerrecht, § 11 AufenthG (Stand: März 2020) Rn. 126.
214Danach ist die von der Antragsgegnerin getroffene Befristungsentscheidung – 20 Jahre ab dem Datum der Ausreise des Antragstellers – nicht zu beanstanden.
215Der Antragsteller wurde nach den vorstehenden Ausführungen zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bzw. einer terroristischen Gefahr ausgewiesen. Diese Gefahr ist nach den Ausführungen unter 3. zu § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG auch schwerwiegend, sodass auch die weiteren Anforderungen nach Art. 11 Abs. 2 Satz 2 Rückführungs-RL erfüllt sind,
216vgl. zu dieser einschränkenden Auslegung des § 11 Abs. 5a AufenthG auch Zeitler, HTK-AuslR, § 11 AufenthG, zu Abs. 5a (Stand: 21.08.2019) Rn. 14.
217Atypische Umstände, die ein Abweichen von dem in § 11 Abs. 5a Satz 1 AufenthG geregelten Regelfall gebieten könnten, liegen im Falle des Antragstellers ersichtlich nicht vor. Vielmehr ist in Person des Antragstellers der Regelfall verwirklicht, dem der Gesetzgeber in § 11 Abs. 5a Satz 1 AufenthG durch die Regelbefristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes auf 20 Jahre Rechnung trägt. Ob die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall sogar ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot hätte erlassen können (§ 11 Abs. 5b Satz 2 AufenthG), bedarf infolge der tatsächlich vorgenommenen Befristung auf (nur) 20 Jahre keiner Entscheidung.
2185.
219Hat der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 AufenthG danach insgesamt keinen Erfolg, so war das Gericht schließlich nicht gehalten, auf die Stellung eines Antrages nach § 123 VwGO – gerichtet auf Anordnung eines einstweiligen Abschiebungsstopps mit Blick auf die noch nicht bestandskräftige Ablehnung des Antrages des Antragstellers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG – hinzuwirken (vgl. § 86 Abs. 3 VwGO).
220Denn ein solcher Antrag wäre ebenfalls erfolglos.
221Ein nicht gemäß § 81 Abs. 3 bzw. Abs. 4 AufenthG geschützter Ausländer – wie der Antragsteller – muss grundsätzlich ausreisen und die Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Ausland abwarten. Von diesem Grundsatz ist zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG eine Ausnahme zu machen, wenn nur so sichergestellt werden kann, dass eine ausländerrechtliche Regelung, die einen Aufenthalt im Bundesgebiet voraussetzt, einem möglicherweise Begünstigten zugutekommt,
222vgl. OVG NRW, Beschluss vom 5. Dezember 2011 – 18 B 910/11 –, m.w.N., juris.
223Dies ist vorliegend nicht der Fall. Denn der Antragsteller hat ersichtlich keinen Anspruch auf Erteilung einer – nur vom Inland aus verfolgbaren – Aufenthaltserlaubnis.
224Insoweit mag dahinstehen, ob die Erteilung einer – hier allein in Betracht kommenden – Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG überhaupt zwingend einen Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet voraussetzt. Denn der Antragsteller erfüllt ersichtlich nicht die Erteilungsvoraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift.
225Nach § 24 Abs. 1 AufenthG wird einem Ausländer, dem auf Grund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, für die nach den Art. 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt.
226Einen entsprechenden Beschluss hat der Rat der Europäischen Union am 4. März 2022 gefasst (Durchführungsbeschluss [EU] 2022/382 des Rates vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes [Durchführungsbeschluss]). Dieser Beschluss wurde mehrfach – zuletzt mit Beschluss des Rates vom 25. Juni 2024 bis zum 4. März 2026 – verlängert.
227Der Antragsteller gehört bereits nicht dem nach Art. 2 Durchführungsbeschluss anspruchsberechtigten Personenkreis an.
228Der Antragsteller ist – entgegen seinem Vorbringen im Asylverfahren – kein v. Staatsangehöriger (Art. 2 Abs. 1 lit. a Durchführungsbeschluss). Bei dem von dem Antragsteller vorgelegten ukrainischen Inlandsreisepass handelt es sich nach dem Behördengutachten des Bundeskriminalamtes vom 15. August 2023 und dem Schreiben des Sicherheitsdienstes der Ukraine vom 24. Oktober 2023 vielmehr um eine Totalfälschung. Auch im Übrigen bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller – anstelle der ursprünglich nach eigenen Angaben bestehenden l. Staatsangehörigkeit – tatsächlich die v. Staatsangehörigkeit innehat.
229Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz (Art. 2 Abs. 1 lit. b Durchführungsbeschluss) genossen hat, Familienangehöriger einer in Art. 2 Abs. 1 lit. a und b Durchführungsbeschluss genannten Person ist (Art. 2 Abs. 1 lit. c Durchführungsbeschluss) oder sich anderweitig rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten hat (Art. 2 Abs. 2 und 3 Durchführungsbeschluss).
230Ausweislich eines Schreibens des Sicherheitsdienstes der Ukraine wird die Person „L5. , v. B7. “, bei der es sich um den Antragsteller handelt,
231vgl. zur Namensindentität BKA, Vermerk vom 23. Februar 2024 (KK C2. ),
232im einheitlichen staatlichen demografischen Register nicht als v. Staatsangehöriger geführt. Der Antragsteller besaß und besitzt danach auch keine v. Aufenthaltserlaubnis,
233vgl. Sicherheitsdienst der Ukraine, Schreiben vom 24. Oktober 2023.
234Unabhängig hiervon und für sich selbständig tragend ist ein Anspruch des Antragstellers nach § 24 AufenthG auch wegen § 24 Abs. 2 AufenthG ausgeschlossen. Danach ist die Gewährung von vorübergehendem Schutz ausgeschlossen, wenn die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 AsylG oder des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG vorliegen; die Aufenthaltserlaubnis ist zu versagen. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Fall 1 AufenthG sind im Falle des Antragstellers, wie oben unter 3. dargelegt, erfüllt.
235Auch § 5 Abs. 4 AufenthG steht der Erteilung eines Aufenthaltstitels entgegen. Danach ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels u.a. dann zu versagen, wenn ein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG besteht. Dies ist im Falle des Antragstellers nach dem Vorstehenden der Fall.
236Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
237Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2, 52 Abs. 1 und 2 des Gerichtskostengesetzes unter Berücksichtigung der Ziffern 1.5, 8.1 und 8.2 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
238Rechtsmittelbelehrung:
239Gegen den Beschluss zu 1. steht den Beteiligten die Beschwerde an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zu.
240Die Beschwerde ist innerhalb von zwei Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Sie ist innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe der Entscheidung zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht bereits mit der Beschwerde vorgelegt worden ist, beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, schriftlich einzureichen. Sie muss einen bestimmten Antrag enthalten, die Gründe darlegen, aus denen die Entscheidung abzuändern oder aufzuheben ist, und sich mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzen. Das Oberverwaltungsgericht prüft nur die dargelegten Gründe.
241Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.
242Im Beschwerdeverfahren gegen den Beschluss zu 1. muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für die Einlegung der Beschwerde. Der Kreis der als Prozessbevollmächtigte zugelassenen Personen und Organisationen bestimmt sich nach § 67 Abs. 4 VwGO.
243Gegen den Beschluss zu 2. findet innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, Beschwerde statt, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 Euro übersteigt.
244Die Beschwerde ist schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle bei dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, Bahnhofsvorplatz 3, 45879 Gelsenkirchen, einzulegen. Über sie entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Aegidiikirchplatz 5, 48143 Münster, falls das beschließende Gericht ihr nicht abhilft.
245Auf die unter anderem für Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts geltende Pflicht zur Übermittlung von Schriftstücken als elektronisches Dokument nach Maßgabe der §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung – ERVV –) wird hingewiesen.