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Die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 6621/24.A gegen die in Ziffer 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. September 2024 (Gesch.-Z.: N01) enthaltene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, werden der Antragsgegnerin auferlegt.
Gründe
2Der am 11. Oktober 2024 gestellte Antrag der Antragstellerin,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 22 K 6621/24.A gegen die in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. September 2024 enthaltene Abschiebungsanordnung anzuordnen,
4hat Erfolg.
5Der zulässige Antrag ist begründet.
6Nach § 75 Abs. 1 AsylG hat die Anfechtungsklage gegen die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ausgesprochene Abschiebungsanordnung keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht kann jedoch auf Antrag gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i. V. m. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG im Rahmen einer eigenen Ermessenentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs das durch § 75 Abs. 1 AsylG gesetzlich bekräftigte öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung überwiegt. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf voraussichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse der Antragstellerin regelmäßig zurück. Erweist sich der Bescheid bei dieser Prüfung dagegen als rechtswidrig, besteht kein Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
7Hiervon ausgehend überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihres Rechtsbehelfs. Dies ergibt sich aus einer allgemeinen Interessensabwägung. Denn der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist vorliegend nicht hinreichend absehbar. Für den Ausgang des Hauptsacheverfahrens kommt es u.a. entscheidungserheblich auf die Beantwortung der Rechtsfrage an, ob eine Überstellung der Antragstellerin an Kroatien – unterstellt, dieser wäre der für die Durchführung des Asylverfahrens zuständige Mitgliedstaat – an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO wegen systemischer Mängel im dortigen Asylsystem, aus denen sich die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Rechte der Antragstellerin aus Art. 4 GRCh ergibt, scheitert.
8Eine Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO würde systemische Schwachstellen im Asylverfahren oder bei den Aufnahmebedingungen im ersuchten Staat Kroatien voraussetzen. Nach dem System der normativen Vergewisserung,
9vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – NVwZ 1996, 700, 704 f.,
10bzw. dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens,
11vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 – „Jawo" -, juris, Rn. 80 f.; Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. – „Ibrahim u.a.“ – juris, Rn. 84; Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10, C-493/10 –, juris, Rn. 79 ff.,
12gilt die Vermutung, dass die Behandlung von Asylbewerbern in jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union (EU) den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der EU (GRCh) entspricht. Demnach ist zunächst davon auszugehen, dass Kroatien über ein im Wesentlichen ordnungsgemäßes, richtlinienkonformes Asyl- und Aufnahmeverfahren verfügt, welches prinzipiell funktionsfähig ist und insbesondere sicherstellt, dass der rücküberstellte Asylbewerber im Normalfall nicht mit schwerwiegenden Verstößen und Rechtsbeeinträchtigungen rechnen muss.
13Diese Vermutung ist jedoch dann widerlegt, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in einem Mitgliedsstaat systemische Mängel aufweisen, die regelhaft so defizitär sind, dass sie im konkreten Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK bergen.
14Vgl. EuGH, Urteil vom 29. Februar 2024 – C-392/22 –, juris; BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 B66.21 –, juris; BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6.14 –, juris; siehe auch grundlegend EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 – C-411/10, C-493/10 –, juris, Rn. 79 ff.; BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 – 1 C 16/18 –, juris, Rn. 37.
15Auf der anderen Seite machen selbst schwerwiegende Schwachstellen oder Mängel im Asylverfahren oder in den Aufnahmebedingungen, die nicht nur vereinzelt vorkommen (und damit „systemisch“ sind), eine Überstellung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO nicht unmöglich, wenn sich daraus im konkret zu entscheidenden Einzelfall keine Gefahr einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung entgegen Art. 4 GRCh ableiten lässt.
16Vgl. OVG Niedersachsen, Urteil vom 11. Oktober 2023 – 10 LB 18/23 –, juris; vgl. für den Fall des Vorliegens einer konkreten Garantieerklärung durch den Dublin-Zielstaat bei ansonsten vorliegenden systemischem Mangel: BayVGH, Beschluss vom 27. Februar 2023 – 24 ZB 22.50056 –, juris.
17Andererseits kann auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 GRCh eine Überstellung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO unmöglich machen, wenn diese Rechtsverletzung nicht die Konsequenz aus der Existenz systemischer Schwachstellen im Überstellungsstaat ist.
18Vgl. EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 – C-578/16 PPU –, juris.
19Der rechtliche Bezug zu Art. 4 GRCh setzt dabei in jedem Fall das Erreichen einer besonders hohen Erheblichkeitsschwelle voraus.
20Vgl. EuGH, Urteil vom 29. Februar 2024 – C-392/22 –, juris; BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 – 1 B 66.21 –, juris; EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 „Ibrahim“ u.a. –, juris und C-163/17, „Jawo“ – juris.
21In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist dabei geklärt, dass es ungeachtet des europarechtlichen Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten sowohl verfassungsrechtlich als auch europa- und konventionsrechtlich geboten sein kann, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor der Rückführung eines Asylsuchenden in einen anderen Staat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen müssen.
22Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 – 2 BvR 1380/19 –, juris.
23Insoweit kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, die gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Dublin-Rechtskontext zu berücksichtigen ist, der Grundsatz des „mutual trust“ nicht im Sinne eines „blinden Vertrauens“ zur Rechtfertigung von Überstellungen zwischen EU-Mitgliedstaaten verstanden und auch nicht „schematisch“ bzw. „mechanisch“ angewandt werden.
24StRspr, vgl. EGMR, Urteil vom 21. September 2019 (GK) – Ilias und Ahmed/Ungarn, Nr. 47287/15 – NVwZ 2020, 937; Urteil vom 23. Mai 2016 – Avotiņš/Litauen, Nr. 17502/07 – NJOZ 2018, 1515; Urteil vom 3. Juli 2014 – Mohammadi/Österreich, Nr. 71932/12 – BeckRS 2014, 127908; Urteil vom 21. Januar 2011 (GK) – M.S.S./Belgien u. Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413.
25Dass gegenseitiges Vertrauen nicht mit „blindem Vertrauen“ verwechselt werden darf, hat zuletzt auch die Generalanwältin im Verfahren C-753/22 vor dem Gerichtshof der Europäischen Union dargelegt.
26Vgl. die Schlussanträge vom 25. Januar 2024 – C-753/22 –, BeckRS 2024, 688.
27Hiervon ausgehend wird in der jüngsten Rechtsprechung die Frage, ob eine Überstellung eines Asylbewerbers an Kroatien als den an sich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO wegen systemischer Mängel im dortigen Asylsystem, aus denen sich die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Rechte des Asylbewerbers aus Art. 4 GRCh ergibt, scheitert, unterschiedlich beantwortet.
28Vgl. insoweit die ausführlichen Rechtsprechungshinweise im Urteil des VG München vom 22. Februar 2024 – M 10 K 22.50479 –, juris, Rn. 53; vgl. zudem aus der jüngsten Rspr. für die Annahme systemischer Schwachstellen: VG München, Gerichtsbescheid vom 11. Juni 2024 – M 10 K 23.50884 –, juris; VG München, Beschluss vom 29. Juli 2024 – M 10 S 24.50732 –, juris; gegen die Annahme systemischer Schwachstellen: VG Arnsberg, Beschluss vom 14. August 2024 – 6 L 788/24.A –, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 30. Juli 2024 – 4 AE 2735/24 –, juris; VG Berlin, Beschluss vom 19. Juni 2024 – VG 9 L 245/24 A –; wie hier wegen offener Erfolgsaussichten offenlassend VG Köln, Beschluss vom 24. April 2024 – 22 L 691/24.A –, juris.
29Insbesondere problematisch ist dabei die Praxis von Kettenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina auf der Grundlage des zwischen diesen beiden Staaten getroffenen Rückübernahmeabkommens, von dem ausweislich der aktuellen Erkenntnismittel auch in der Praxis derzeit Gebrauch gemacht wird,
30vgl. AIDA, Country Report Croatia, Update 2023 vom 10. Juli 2024, Seite 27 sowie VG München, Beschluss vom 29. Juli 2024 – M 10 S 24.50732 –, juris, Rn. 19 unter Bezugnahme auf weitere im Detail zitierte Erkenntnismittel,
31wobei die relevante Frage, ob davon mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch Dublin-Rückkehrer betroffen sind, unterschiedlich beantwortet wird.
32Unter ausführlicher Auswertung des europäischen und kroatischen Rechts sowie abweichender Ansichten die Anwendbarkeit auf Dublin-Rückkehrer bejahend VG München, Beschluss vom 29. Juli 2024 – M 10 S 24.50732 –, juris, Rn. 23; zum Erfordernis „positiver Belege“ für die Widerlegung der Vermutungsregel vgl. OVG NRW, Beschluss vom 4. Juli 2024 – 11 A 2105/23.A –, juris, Rn. 36.
33Im Rahmen des vorliegenden Eilverfahrens, in dem die gerichtliche Entscheidung nach den Vorstellungen des Gesetzgebers innerhalb von einer Woche ergehen soll (§ 36 Abs. 3 Satz 5 AsylG) ist es nicht möglich, sich mit den insoweit maßgeblichen tatsächlichen Umständen sowie mit den sich hier stellenden komplexen Rechtsfragen in hinreichender Weise auseinanderzusetzen. Eine abschließende Bewertung muss insofern dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.
34Die danach anzustellende allgemeine Interessenabwägung fiele, käme es hier auf die vorstehend dargestellten Rechtsfragen an, zugunsten der Antragstellerin aus. Die Antragstellerin ist nach ihrem Vortrag mit dem Flugzeug zunächst nach Sarajevo in Bosnien-Herzegowina geflogen und von dort auf dem Landweg über die Grenze nach Kroatien gebracht worden. Dort habe man ihr Fingerabdrücke abgenommen und weitergeschickt. Sie sei dann über Italien und die Schweiz nach Deutschland gereist. Im Hauptsacheverfahren muss eingehend geprüft werden, ob sich für die Antragstellerin die konkrete und ernsthafte Gefahr ergibt, von der von Kroatien praktizierten Kettenabschiebung betroffen und dadurch einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt zu sein. Da dies jedenfalls bei summarischer Betrachtung unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist, ist von einer Überstellung der Antragstellerin nach Kroatien für die Dauer des Hauptsachverfahrens abzusehen. Würde die Antragstellerin an Kroatien überstellt und erwiese sich die Klage in der Hauptsache als begründet, stünde hier die Verletzung hochrangiger Rechtsgüter der Antragstellerin in Rede. Der Schutz dieser Rechtsgüter, deren Verletzung im Falle eines Obsiegens der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren nicht mehr rückgängig zu machen wäre, überwiegt das Interesse der Antragsgegnerin an einer vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens vollzogenen Überstellung an Kroatien.
35Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
36Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).