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Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.
Der Beschluss ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Beschlusses vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
G r ü n d e :
2I.
3Der am 0. Dezember 0000 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste nach eigenen Angaben am 9. Februar 2022 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 15. Februar 2022 einen Asylantrag. Eine Eurodac-Abfrage ergab einen Treffer der Kategorie 2 in Bezug auf Italien. Danach wurden dem Kläger am 21. Januar 2022 in Y. Fingerabdrücke abgenommen. Der Kläger ab an, sich in Italien ca. 10 Tage aufgehalten zu haben. Er habe in Quarantäne gemusst und sei dann in ein Camp gebracht worden.
4Italien reagierte auf das Aufnahmegesuch des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 16. Februar 2022 nicht.
5Mit am 25. April 2022 zugestelltem Bescheid vom 19. April 2022 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2.), und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3.). Es ordnete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG an und befristete dieses auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.).
6Der Kläger hat am 27. April 2022 Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.
7Der Kläger hat schriftsätzlich beantragt,
8den Bescheid vom 19. April 2022 aufzuheben,
9hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung dieses Bescheides zu verpflichten, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
10Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Mit Beschluss vom 29. April 2022 - 8 L 1001/22.A - hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet. Mit Gerichtsbescheid vom 13. Mai 2022 hat es der Klage stattgegeben und den Bescheid vom 19. April 2022 aufgehoben.
13Zur Begründung ihrer mit Beschluss vom 26. Juli 2022 zugelassenen Berufung verweist die Beklagte auf die Beschlüsse des Senats vom 15. Juli 2022 - 11 A 1138/21.A - und vom 26. Juli 2022 - 11 A 1497/21.A -.
14Mit an alle Dublin-Units gerichtetem Rundschreiben vom 5. Dezember 2022 führte die italienische Dublin-Unit aus:
15„This is to inform you that due to suddenly appeared technical reasons related to unavailability of reception facilities Member States are requested to temporarily suspend transfers to Italy from tomorrow, with the exception of cases of family reunification of unaccompanied minors.
16Further and more detailed information regarding the duration of the suspension will follow.“
17Mit weiterem Rundschreiben vom 7. Dezember 2022 führte die italienische Dublin-Unit aus:
18„I write following the previous communication on 5th December, concerning the suspension of transfers, with the exception of cases of family reunification of minors, due to the unavailability of reception facilities.
19At this regard, considering the high number of arrivals both at sea and land borders, this is to inform you about the need for a re-scheduling of the reception activities for third countries nationals, also taking into account the lack of available reception places.“
20Hierzu führt die Beklagte aus, dass „feststehen“ im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ein relatives Feststehen meine, dass die Abschiebung mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden könne. Sofern die Überstellungsfrist noch nicht abgelaufen sei, sei der Prognose, ob der Abschiebungsanordnung tatsächliche Vollzugshindernisse entgegenstünden, der Gesamtzeitraum der Überstellungsfrist zugrunde zu legen. Die Italienische Republik habe mit den Schreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 erklärt, dass Überstellungen im Rahmen der Dublin III-VO ab sofort zunächst nicht mehr angenommen würden. Die Formulierung „suspends“ zeige, dass Überstellungen lediglich aufgeschoben werden sollen. Diese Einschätzung werde auch dadurch gestützt, dass die Italienische Republik weiterhin Zustimmungen für Auf- und Wiederaufnahmeersuchen erteile. Auf Basis des Grundsatzes gegenseitigen Vertrauens sei davon auszugehen, dass es sich bei der derzeitigen Nichtannahme von Überstellungen um ein vorübergehendes Hindernis handle und die Italienische Republik dessen Notwendigkeit fortlaufend überprüfen und der jeweiligen Lage anpassen werde. Diese Bewertung stehe auch im Einklang mit der Funktionsfähigkeit und den Zielen des Dublinregimes. Insbesondere ergebe sich daraus keine Verkürzung der Rechtsposition der antragstellenden Person, da diese weiterhin durch den Zuständigkeitsübergang bei Fristablauf gem. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO geschützt sei.
21Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
22unter Abänderung des Gerichtsbescheides des Verwaltungsgerichts die Klage abzuweisen.
23Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,
24die Berufung zurückzuweisen..
25Er trägt vor, dass wegen der Aussetzung der Rückführungen durch Italien die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 AsylG nicht mehr vorlägen. Es stehe nicht fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden könne.
26Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Bundesamtes Bezug genommen.
27II.
28A. Der Senat entscheidet über die Berufung der Beklagten nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (vgl. § 130a Satz 1 VwGO).
29B. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat der Klage im Ergebnis zu Recht stattgegeben. Der angegriffene Bescheid ist insgesamt rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
30Dabei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats abzustellen.
31Vgl. auch EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C- 297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 67 f.
32I. Ziffer 1. des Bescheides, mit der der Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, lässt sich nicht (mehr) auf § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG stützen. Danach ist ein Asylantrag dann unzulässig, wenn nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (im Folgenden Dublin III-VO) ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, weil die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers nicht (mehr) gegeben ist.
331. Der Senat kann offen lassen, ob dies aus einem ungeschriebenen Tatbestandsmerkmal des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG folgt, nach dem zur Vermeidung einer Situation eines „refugee in orbit“ ein Mitgliedstaat einen Schutzsuchenden dann nicht auf eine Prüfung durch einen (eigentlich) zuständigen Mitgliedstaat verweisen darf, wenn dessen (Wieder-)Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht.
34Vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 19. Januar 2023 - 9 K 2602/19.A -, juris, Rn. 21 ff.; a. A. OVG Rh.-Pf., Beschluss vom 19. Januar 2023 - 13 A 10716/22.OVG ‑, juris, Rn. 19.
352. Denn jedenfalls ist die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO für das Asylverfahren des Klägers zuständig geworden. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden kann.
36Diese Voraussetzungen sind erfüllt, weil die sich im Fall des Klägers aus Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO ergebende Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO entfällt. Danach setzt der prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen.
37a. Aufgrund des zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens hat jeder Mitgliedstaat - abgesehen von außergewöhnlichen Umständen - davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Dublin III-VO die Vermutung, dass die Behandlung Asylsuchender in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - sowie der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention - steht.
38Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 81 f., und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 84 f.
39Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, jedoch ist die Widerlegung dieser Vermutung wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Daher steht nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem der Überstellung eines Asylsuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat entgegen. Dies wäre mit den Zielen und dem System der Dublin III-VO unvereinbar.
40Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 84 und 91 f.
41Art. 4 GRCh steht der Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in einen anderen Mitgliedstaat entgegen, sofern im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte festzustellen ist, dass sie in diesem Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.
42Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, Rn. 85 und 98.
43Dies gilt aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters des Art. 4 GRCh in allen Situationen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Asylsuchender bei oder infolge seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfährt. Dementsprechend ist es für die Anwendung des Art. 4 GRCh unerheblich, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss zu einer solchen Behandlung kommt und ob systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen des Asylsystems in dem anderen Mitgliedstaat vorliegen,
44vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87, 88 und 90, und - C-297/17 u. a. (Ibrahim) -, juris, Rn. 87,
45oder ob es unabhängig vom Vorliegen solcher Schwachstellen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommt.
46Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019- C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87.
47Ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. den diesem entsprechenden Art. 3 EMRK liegt aber nur dann vor, wenn die drohende Behandlung eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle ist grundsätzlich erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
48Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, juris, Rn. 87 bis 92, und vom 1. August 2022 - C-422/21 -, juris, Rn. 39 f.; Beschluss vom 13. November 2019 - C-540 und 541/17 (Hamed und Omar) -, juris, Rn. 39; vgl. hierzu auch OVG NRW, Beschluss vom 16. Dezember 2019 - 11 A 228/15.A -, juris, Rn. 29 ff., m. w. N., wonach ein Verstoß gegen Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK vorliegt, wenn die elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") nicht befriedigt werden können, ferner Urteile vom 26. Januar 2021 - 11 A 1564/20.A -, juris, Rn. 30, und - 11 A 2982/20.A -, juris, Rn. 32, sowie vom 20. Juli 2021 - 11 A 1674/20.A -, juris, Rn. 32, und - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 36.
49Bereits ein relativ kurzer Zeitraum, während dessen sich eine Person in einer Situation extremer materieller Not befindet, reicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh zu begründen. Dabei ist auch zu beachten, dass den Rechten, die die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie) sowie die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie) Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, einräumen, die tatsächlichen Wirkungen genommen würden, wenn sie selbst während einer relativ kurzen Zeitspanne nicht mit einer Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse einhergingen.
50Vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 46 ff. (zu Art. 20 RL 2013/33/EU); Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6. Juni 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris, Rn. 78 f.
51b. Ausgehend hiervon ist die Zuständigkeit für die Prüfung des Asylantrags des Klägers nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.
52Das Asylsystem und die Aufnahmebedingungen in Italien weisen systemische Schwachstellen i. S. v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO auf, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, weil die italienischen Behörden Dublin-Rückkehrern den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt verweigern.
53Vgl. VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris Rn. 36, 55 ff.; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 14. März 2023 - 22 K 6528/19.A -, juris Rn. 45 ff., und Beschluss vom 8. Mai 2023 - 23 L 780/23.A -, juris, Rn. 36.
54Italien ist zur (Wieder-)Aufnahme des Klägers wie auch anderer Dublin-Rückkehrer nicht bereit. Der Senat geht mit dem Verwaltungsgericht Arnsberg,
55Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 2991/22.A -, juris, Rn. 47,
56davon aus, dass es sich bei der im Dezember 2022 mitgeteilten Maßnahme der italienischen Behörden nicht um ein vorübergehendes Aussetzen von Überstellungen, sondern um die diplomatisch verklausulierte Weigerung der Aufnahme von Dublin-Rückkehrern auf „unbestimmte Zeit“ handelt.
57Die Schreiben der italienischen Behörden vom 5. und 7. Dezember 2022 stellen zunächst nicht bloße Bitten um eine Aussetzung der Überstellungen dar, wodurch die Beklagte jedoch nicht gehindert wäre, trotzdem Überstellungen durchzuführen.
58So aber VG Trier, Beschluss vom 5. April 2023 - 2 L 1065/23.TR -, juris; VG Aachen, Beschlüsse vom 10. Februar 2023 - 9 L 93/23.A -, und vom 22. März 2023 ‑ 9 L 223/23.A -, jeweils juris; vgl. aber nunmehr VG Aachen, Beschluss vom 17. Mai 2023 - 9 L 379/23.A -, juris, Rn. 12 ff.
59Auch wenn in den Erklärungen von einem „request“ gesprochen wird, so machen die Erklärungen im Übrigen deutlich, dass Überstellungen nach Italien mangels Aufnahmemöglichkeiten („unavailability of reception facilities“) nicht möglich seien. Auch die Beklagte hat ausgeführt, dass sie die Schreiben dahingehend verstehe, dass „Überstellungen im Rahmen der Dublin-III-VO ab sofort zunächst nicht mehr angenommen“ werden.
60Vgl. auch OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2023 - 11 A 335/23.A -, juris, Rn. 29.
61Dem entspricht es, dass sich die Bundesinnenministerin gemeinsam mit den zuständigen Ministern von sechs weiteren Staaten zu einem „Joint Communiqué“ vom 8. März 2023,
62abrufbar auf der Seite der Niederländischen Regierung: https://www.rijksoverheid.nl/documenten/ publicaties/2023/03/08/joint-statement,
63veranlasst gesehen hat, in dem es u. a. heißt:
64„They therefore reiterated the necessity of applying the existing rules in good faith to provide for the necessary conditions to allow Dublin transfers according to the existing standards … “,
65vgl. auch die Presseberichterstattung zum Treffen der EU-Innenminister am 9. März 2023: etwa Tiroler Tageszeitung, EU-Innenminister machen Druck auf Italien wegen Migration, 9. März 2023, abrufbar unter https://www.tt.com/artikel/30848350/eu-innenminister-machen-druck-auf-italien-wegen-migration, nach der der italienischen Regierung vorgeworfen werde, die Dublin-Regeln einseitig aufgekündigt zu haben; Tagesspiegel, Faeser unter Druck: Innenministerin verlangt Rückkehr zu Dublin-Regeln, 10. März 2023, abrufbar unter https://www.tagesspiegel.de/politik/faeser-unter-druck-innenministerin-verlangt-ruckkehr-zu-dublin-regeln-9473264.html, wonach die Bundesinnenministerin, ohne Italien explizit zu erwähnen, für eine Rückkehr zu den Regeln des Dublin-Systems geworben habe; vgl. auch L’Echo, L'Italie priée d'appliquer les règles de Dublin sur l'asile, 9. März 2023, abrufbar unter https://www.lecho.be/economie-politique/europe/general/l-italie-priee-d-appliquer-les-regles-de-dublin-sur-l-asile/10452810.html, wo u. a. Äußerungen des französischen Innenministers zitiert werden, nach denen die Dublin III-VO mit bestimmten Staaten, insbesondere Italien, nicht funktioniere; vgl. auch NZZ, Flüchtlingsaufnahme gestoppt: Was steckt hinter Italiens Entscheidung?, 8. April 2023, abrufbar unter https://www.nzz.ch/schweiz/italien-nimmt-bis-mindestens-anfang-mai-keine-fluechtlinge-zurueck-ld.1733446.
66Es handelt sich auch nicht um eine lediglich vorübergehende, zeitlich begrenzte Aussetzung der Annahme von Überstellungen. Die Rundschreiben benennen weder ein Enddatum für die Aussetzung der Überstellungen noch einen auch nur ungefähren oder voraussichtlichen Zeitrahmen. Seit über einem halben Jahr ist - trotz Ankündigung im Rundschreiben vom 5. Dezember 2022 - keine weitere Information zur Dauer der Aussetzung der Überstellungen erfolgt. Auch die Beklagte hat dem Senat weder in diesem noch in einem anderen Verfahren neue Informationen mitgeteilt.
67Vgl. auch die Urteile des niederländischen Raad van State - Afdeling bestuursrechtspraak - vom 26. April 2023, ECLI:NL:RVS:2023:1654 und ECLI:NL:RVS:2023:1655, abrufbar unter https://www.raadvanstate.nl/talen/artikel/english-version/state-secretary-blocked-from-returning/, in denen zur Kommunikation der italienischen mit den niederländischen Behörden ausgeführt wird, dass die EU-Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 4. Januar 2023 aufgefordert worden seien, die Überstellungen für Januar 2023 abzusagen. Am 27. Januar 2023 sei eine solche Aufforderung für Überstellungen in der ersten Februarwoche erfolgt, am 7. Februar 2023 eine erneute einwöchige Aussetzung. Seitdem habe es keine Information mehr gegeben.
68Auch die Justizministerin und das Staatssekretariat für Migration (SEM) der Schweiz sehen bei der Rücknahme von Flüchtlingen durch Italien keine Anzeichen dafür, dass sich etwas bewegt.
69Vgl. Tagesanzeiger, Baume-Schneider über Flüchtlingsrücknahme: „Italiens Blockade wird Monate anhalten“, 4. Mai 2023, abrufbar unter https://www.tagesanzeiger.ch/baume-schneider-zur-fluechtlingsruecknahme-italiens-blockade-wird-monate-anhalten-745771683413; SEM, Italien: Dublin-Überstellungen und Rückübernahmeabkommen, 15. Mai 2023, abrufbar unter https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/aktuell/italien-dublin.html.
70Jedenfalls unter Berücksichtigung des erheblichen Zeitraums von mehr als sechs Monaten, der bereits länger ist als die regelmäßige Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO, kann dem Vorgehen der italienischen Behörden ohne weitere Information nichts dafür entnommen werden, ob und ggfs. wann Überstellungen wieder ermöglicht werden sollen.
71Vgl. VG Gießen, Beschluss vom 28. März 2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris, Rn. 10 f.
72Angesichts dieses Zeitablaufs kann der Formulierung der Schreiben, soweit sie von einer vorübergehenden Aussetzung sprechen, kein Gewicht (mehr) beigemessen werden.
73Vgl. etwa VG Köln, Beschluss vom 13. April 2023 - 26 L 403/23.A -, juris, Rn. 11; VG Gießen, Beschluss vom 28. März 2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris Rn. 11; a. A. etwa VG Osnabrück, Beschluss vom 12. April 2023 - 5 B 70/23 -, juris; VG Hamburg, Urteil vom 27. März 2023 - 9 A 1520/20 -, juris; VG Darmstadt, Beschluss vom 14. März 2023 - 2 L 53/23.A -, juris.
74Soweit die Beklagte in anderen Verfahren ausführt, dass die Aufnahmeeinrichtungen in Italien nicht ausgelastet seien, so spricht das letztlich dafür, dass die Begründung für die Aussetzung der Überstellungen vorgeschoben ist. Sollte die Aussetzung der Überstellungen damit nicht auf „technischen Gründen“ bzw. der Auslastung des Aufnahmesystems beruhen, sondern auf dem (politischen) Willen der italienischen Behörden, so wäre in keiner Weise absehbar, ob, wann und unter welchen Bedingungen, Überstellungen nach Italien bzw. ein Zugang zum italienischen Asylverfahren für Dublin-Rückkehrer wieder möglich sein werden.
75Vgl. dazu auch VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28. Februar 2023 - 1a L 180/23.A -, juris, Rn. 8; Nds. OVG, Beschluss vom 26. April 2023 - 10 LA 48/23 -, juris, Rn. 21.
76Die Tatsache, dass die Italienische Republik nach dem Vortrag der Beklagten weiterhin Zustimmungen für Auf- und Wiederaufnahmeersuchen erteilt, führt ebenfalls nicht zu einer anderen Einschätzung. Denn diese Erklärungen haben offensichtlich keinen Einfluss auf die tatsächliche Übernahmebereitschaft Italiens.
77Vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28. Februar 2023 - 1a L 180/23.A -, juris, Rn. 8; VG Gießen, Beschluss vom 28. März 2023 - 1 L 636/23.GI.A -, juris, Rn. 13; a. A. etwa VG Würzburg, Urteil vom 28. Februar 2023 - W 1 K 22.50157 -, juris.
78Aus dem Grundsatz gegenseitigen Vertrauens folgt nichts anderes. Denn dieser Grundsatz ist in der derzeitigen Situation bereits durch die generelle Ablehnung der Annahme von rückzuüberstellenden Asylsuchenden in Widerspruch zur Dublin III-VO entkräftet.
79Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 26. April 2023 - 10 LA 48/23 -, juris, Rn. 21; Raad van State - Afdeling bestuursrechtspraak -, Urteile vom 26. April 2023 ‑ ECLI:NL:RVS:2023:1654 -, Ziffer 4.3, und ‑ ECLI:NL:RVS:2023:1655 -, Ziffer 3.3.
80Die Beklagte hat auch nicht vorgetragen, ihrerseits Schritte ergriffen zu haben, die geeignet wären, die italienischen Behörden zu einer zeitnahen Aufnahme des Klägers zu bewegen.
81c. Soweit in der Rechtsprechung zum Teil davon ausgegangen wird, dass die Nichtübernahme durch die italienischen Behörden zum Ablauf der Überstellungsfrist und damit zum Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte führen wird, dies aber den Schutzsuchenden ausschließlich zum Vorteil gereiche,
82so etwa VG Potsdam, Beschluss vom 11. April 2023 - 2 L 179/23.A -, juris; VG Magdeburg, Beschluss vom 17. März 2023 - 6 B 123/23 MD -, juris,
83m. a. W. keine Rechtsverletzung i. S. v. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorliegen soll, wird übersehen, dass die betreffenden Klägerinnen oder Kläger im Falle der Klageabweisung aufgrund der dann bestandskräftigen Ablehnung seines Asylantrags zur Ausreise verpflichtet wären (vgl. § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG).
84Vgl. zur Situation der Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung bei Ablehnung eines Eilantrags VG Düsseldorf, Beschluss vom 4. Mai 2023 - 22 L 1042/23.A -, juris, Rn. 32.
85Gleichzeitig können sie vor Ablauf der dann neu anlaufenden Überstellungsfrist ihren Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens (vgl. etwa Art. 6, 10 Abs. 3 der Asylverfahrensrichtlinie) nicht dadurch realisieren, dass sie ihrer Ausreisepflicht nachkommen und nach Italien (zurück-)reisen. Es kann angesichts des von den italienischen Behörden geltend gemachten Mangels an Aufnahmekapazitäten nicht davon ausgegangen werden, dass eine freiwillige Rückreise und im Anschluss daran eine Aufnahme in Unterbringungseinrichtungen durch die italienischen Behörden ermöglicht würde.
86Aus dem gleichen Grund kann die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh nicht deshalb verneint werden, weil eine Überstellung nicht stattfinden wird, solange der Aufnahmestopp anhält.
87So aber wohl VG Gießen, Beschluss vom 4. Februar 2023 - 2 L 213/23.GI.A, milo, S. 14 BA,
88II. Aus der Rechtswidrigkeit der Ziffer 1. folgt die Rechtswidrigkeit der übrigen Ziffern des angegriffenen Bescheides.
89Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 22. März 2023 - 11 A 1086/21.A -, juris, Rn. 72.
90C. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 2 VwGO, 83b AsylG.
91Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 10, 709 Satz 2, 711 Satz 1 ZPO.
92Die Revision ist nicht zuzulassen Die Voraussetzungen der §§ 132 Abs. 2 VwGO, 78 Abs. 8 Satz 1 Nr. 1 AsylG liegen nicht vor.