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Verwaltungsgericht Gelsenkirchen, 1a L 1896/23.A

Datum:
29.12.2023
Gericht:
Verwaltungsgericht Gelsenkirchen
Spruchkörper:
1. Kammer
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
1a L 1896/23.A
ECLI:
ECLI:DE:VGGE:2023:1229.1A.L1896.23A.00
 
Normen:
AslyG § 34a Abs 1 S 1; Dublin-III-VO Art. 3 Abs 2 UAbs 2; GR-Charta Art. 4; EMRK Art 3
Leitsätze:

Aufnahmestopp

Italien

Systemische Mängel

Abschiebungsanordnung

Durchführbarkeit

hypothetische Betrachtung

Schattenwirtschaft

 
Tenor:

Der Asylantrag der Antragstellerin dürfte schon nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig sein, sodass eine wesentliche Voraussetzung für eine Abschiebungsanordnung – die Zuständigkeit des Zielstaats – nicht vorliegen dürfte. Vielmehr dürfte die Zuständigkeit für das Verfahren der Antragstellerin auf Grundlage von Art. 3 Abs. 2 Uabs. 2 und 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen sein. Nach Ansicht der Kammer spricht Überwiegendes dafür, dass in Ansehung der Entwicklung des letzten Jahres davon auszugehen ist, dass das Asylsystem Italiens (allgemein) systemische Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Uabs. 2 Dublin III-VO aufweist, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, weil die italienischen Behörden auf Grundlage der Erklärungen vom 5. und 7. Dezember 2022 (Circular Letters des Ministero dell’Interno) die (Wieder-)Aufnahme von Schutzsuchenden, für die Italien nach den Regelungen der Dublin III-VO eigentlich zuständig ist, eingestellt haben und damit den Zugang zum Asylverfahren und die Aufnahme insgesamt verweigern (vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Juli 2023 - 11 A 1722/22.A -, juris, Rn. 46 ff., vom 16. Juni 2023 - 11 A 1132/22.A -, juris, Rn. 47 ff. und vom 7. Juni 2023 - 11 A 2343/19.A -, juris, Rn. 47 ff.). Dies müsste insbesondere dann gelten, wenn Hintergrund des Aufnahmestopps der politische Wille sein sollte, keine Asylberechtigten im Land aufzunehmen. Sollte die Annahme systemischer Mängel nicht allein auf dieser grundsätzlichen Verweigerung Italiens gründen können und, wie das Bundesverwaltungsgericht in seinen Beschlüssen vom 23. Oktober 2023 (Az. 1 B 22.23) und vom 13. November 2023 (Az. 1 B 39.23) ausführt, in jedem Fall zwingend einer Auseinandersetzung mit den tatsächlichen Verhältnissen im Fall einer (unterstellten) Rücküberstellung erforderlich sein, dürfte nichts Anderes gelten. Denn da Italien seine Entscheidung ausschließlich mit fehlenden Kapazitäten im System begründet hat, kann – will man das Dublin-System und die darin enthaltenen Verpflichtungen ernst nehmen – die Entscheidung nur als Versuch gewertet werden, Verstöße gegen die sich aus der Verordnung ergebenden Verpflichtungen und damit konkret eine aus italienischer Sicht offenbar beachtliche Gefahr der unmenschlichen bzw. erniedrigenden Behandlung zu vermeiden. Die eigenen Angaben Italiens zur Unterbringungssituation müssen insofern auch jedenfalls als gewichtige Erkenntnisquelle den Ausgangspunkt für die Beurteilung der tatsächlichen Umstände bilden. Dass demgegenüber die Aufnahmekapazitäten derzeit wieder hinreichend wären, um davon ausgehen zu können, den Betroffenen stehe – sofern sie ihren diesbezüglichen Anspruch nicht ohnehin aufgrund einer vorangehenden Antragstellung in Italien verloren haben sollten – im Falle der Rücküberstellung tatsächlich eine Unterkunft zur Verfügung, ergibt sich auch aus den wenigen im Übrigen zugänglichen Informationen gerade nicht. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass bei der hypothetischen Betrachtung nicht nur die hohe Zahl der in Italien ankommenden Flüchtlinge, sondern zusätzlich auch eine Rücküberstellung der im vergangen Jahr nicht übernommenen Asylantragsteller in Blick genommen werden müsste. Sofern schließlich nicht die fehlende Unterbringung an sich – wie im Falle vulnerabler Antragsteller – bereits die Annahme einer Art. 4 GRCh widersprechenden Behandlung zu tragen vermag, ist in Ansehung der derzeitigen wirtschaftlichen Lage in Italien überdies mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass es den Betroffenen auch nicht anderweitig gelingen wird, ihre elementarsten Bedürfnisse („Bett, Brot, Seife“) zu befriedigen. Denn die humanitären Bedingungen sowie die besonderen Beeinträchtigungen der Antragsteller, insbesondere ihre sprachlichen Probleme, tragen nicht die Annahme, dass es ihnen gelingen wird, eine legale Arbeit zu finden. Aber auch wenn sie – was die Kammer aus Gründen der Einheit der Rechtsordnung ablehnt – auf eine Tätigkeit in der „Schattenwirtschaft“ verwiesen werden würden (vgl. dazu BVerwG, Beschluss vom 17. Januar 2022 - 1 B 66.21 -, juris, Rn. 29), bildet dies in Ansehung der in diesem Bereich anzutreffenden Bedingungen keine hinreichende Grundlage für die Annahme, diese Tätigkeit könnte eine Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse gewährleisten.

Unabhängig von Vorstehendem kann die angedrohte Überstellung derzeit jedenfalls in Ansehung des durch Italien erklärten Aufnahmestopps bis auf Weiteres faktisch nicht, wie § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG aber verlangt, durchgeführt werden (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28. Februar 2023 - 1a L 180/23.A -, juris, Rn. 4 ff.).

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden (§ 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG).

 
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